Lilith Parker: Insel Der Schatten
heran und Lilith wandte sich erschrocken um. Im fahlen Mondlicht sah sie, wie eine Gestalt am anderen Ende des Kiesstrandes auftauchte und ihr mit beiden Händen zuwinkte. Sie war zu weit entfernt, als dass man mehr als einen grauen Schemen erkennen konnte, trotzdem wusste Lilith, dass ihr das Mädchen freundlich gesinnt war. Aber sie wusste auch, dass sie hergekommen war, um Lilith von ihrem Vorhaben abzuhalten – und das konnte sie nicht zulassen! Lilith drehte sich wieder um und ging zielstrebig auf das Wasser zu.
Sie war eine gute Schwimmerin. Eine der besten in Bonesdale. Die See war ihr Element, ihre Vertraute, ihre Seelengefährtin. Von ihr würde Lilith niemals echte Gefahr drohen, da war sie sich sicher!
Die Wellen brachen mit solcher Gewalt gegen ihre Beine, dass sie fast umgerissen wurde. In dieser Nacht war das Meer wie ein zorniges Kind, das seine Wut an den Klippen und dem Strand der Insel ausließ. Das war es, was sie am Meer so faszinierte: Es konnte voller Unschuld sein. Eine schillernde blaue Ebene, die wie in einem tiefen Schlaf vor ihr lag und deren friedlicher, sanfter Atemzug die Wellen anstieß. Und im nächsten Moment konnte es so in Wut geraten, dass es Wellen so hoch wie Berge erscheinen ließ und alles verschlang, was ihm im Weg war. Das Meer war wie ein lebendiges Wesen.
Lilith streckte die flache Hand aus und strich über das schwankende Wasser, als sie tiefer hineinschritt. Es ging ihr mittlerweile bis zu den Hüften. Das Meer war um einige Grad abgekühlt. Seine eisige Kälte legte sich um ihren Körper und kroch in ihn hinein. Als nur noch ihr Kopf aus dem Wasser ragte, klapperten ihre Zähne und ihre Fingerspitzen begannen taub zu werden, aber Lilith nahm es nicht einmal wahr.
Jetzt würde es sich entscheiden! Nichts war sonst mehr wichtig. Seit Jahren hatte sie von diesem Moment geträumt und nun sollte – musste – er wahr werden. Nur noch ihre Fußspitzen berührten festen Grund, wie eine Balletttänzerin balancierte sie auf den Zehen, mühsam das Gleichgewicht haltend, hin- und hergerissen von den Wogen des Meeres.
Über das Rauschen der Wellen hinweg hörte Lilith wieder die Stimme hinter sich. Dieses Mal klang sie eindeutig näher. Ist sie mir etwa ins Meer gefolgt?, schoss es Lilith erschrocken durch den Kopf. Aber so wahnsinnig kann sie doch nicht sein!
Nun hatte Lilith erst recht keine Wahl mehr. Wenn sie beide diese Nacht lebend überstehen sollten, dann musste sie es jetzt tun! Entschlossen stieß sie sich ab und stürzte sich kopfüber in das Wasser.
Sofort umfing sie die Dunkelheit des Meeres und …
Stille.
Nach dem Rauschen, Toben und Brechen der Wellen war die plötzliche Stille beängstigend. Es war, als ob sie in eine andere Welt eingedrungen wäre, in eine Welt, die nicht für die Lebenden bestimmt war.
Für Angst ist jetzt keine Zeit, ermahnte sie sich selbst.
Lilith drängte die Panik beiseite und hörte in sich hinein. Spürte sie es? Die Benommenheit, die Kraftlosigkeit, von der sie nun schon so oft erzählt bekommen hatte – das kurze Erlöschen der Lebenskräfte, ehe man wie neugeboren erwachte?
Nein, da war nichts. Nichts außer der Kälte des Wassers, die ihren Körper immer stärker erfasste, ihn immer mehr zum Erlahmen brachte. Aber vielleicht war es ja gar nicht die Kälte des Meeres, die dies bewirkte?
Entschlossen tauchte sie weiter in die Tiefen des Meeres hinab. Vielleicht musste sie einfach länger … tiefer … weiter …
Der Druck auf ihrer Brust wurde unerträglich. Wenn sie nicht sofort auftauchte, um Luft zu holen, würde sie das Bewusstsein verlieren. Widerstrebend schwamm Lilith in Richtung Wasseroberfläche. Die Erkenntnis, dass ihr Plan nicht funktioniert hatte, ließ ihre Bewegungen kraftlos werden. Es war ihr gleichgültig, ob sie es noch rechtzeitig schaffen würde. Schon öffnete sich ihr Mund, weil sie den Drang, Luft zu holen, nicht mehr unterdrücken konnte – da empfing sie wieder das ohrenbetäubende Tosen des Meeres und ihre Lungen füllten sich mit Sauerstoff.
Ihr blieb keine Zeit, ein weiteres Mal einzuatmen, denn schon schlugen die Wellen wieder über ihr zusammen und ein Strudel erfasste sie, der sie unerbittlich nach unten zog. Das Meer spielte mit ihr wie mit einer Puppe, trieb sie mit sich, mal nach oben, mal nach unten. Lilith unternahm nichts dagegen, wehrte sich nicht. Willenlos ließ sie alles mit sich geschehen.
Es gab nur einen einzigen Gedanken, der sie beherrschte: Sie hatte sich
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