Lilith Parker: Insel Der Schatten
gewesen war? Schon damals war es Lilith seltsam vorgekommen, dass ihre Tante sie in diese heruntergekommene und völlig verlassene Crepusculelane geschickt hatte. Auch war ihr wieder eingefallen, wie unnatürlich groß die Enttäuschung von Mildred und den anderen gewesen war, als Lilith gestehen musste, dass sie den Laden nicht gefunden hatte. Es passte alles ins Bild! Doch um Gewissheit zu haben, gab es nur eine Möglichkeit – sie musste zur Crepusculelane!
Lilith trat noch schneller in die Pedale. Gerade als sie am »Eiscafé Leichenstarre« abbiegen wollte, hörte sie ein schrilles Klingeln, gefolgt von dem Quietschen einer Bremse. Erschrocken sah sie auf. Um ein Haar wäre sie mit Matt zusammengestoßen!
Er funkelte sie wütend an. »Pass doch auf!«
»Tut mir leid«, stammelte sie. »Ich war so in Gedanken, dass ich dich überhaupt nicht gesehen habe.«
»Wenn du zur Generalprobe möchtest, die ist schon vorbei!«, informierte sie Matt in kühlem Tonfall.
Lilith stöhnte auf. »Oje, die habe ich total vergessen.«
Sie konnte nur hoffen, dass Miss Tinkelton ihr Fehlen nicht bemerkt hatte!
»Da ein anderer Bühnenhelfer ebenfalls nicht gekommen ist, musste Miss Tinkelton Höchstselbst den Vorhang auf- und zuziehen.«
Das hatte Lilith gerade noch gefehlt. Soviel zu ihrem Wunsch, dass ihr Fehlen unbemerkt geblieben war. Sie konnte sich vorstellen, dass die Direktorin alles andere als erfreut darüber gewesen war, solch eine niedere Tätigkeit übernehmen zu müssen.
»Ich werde mich morgen bei ihr entschuldigen«, versprach Lilith. Gerade hatte sie Wichtigeres zu erledigen. Sie wollte so schnell wie möglich weiter. »Bis morgen dann!«
»Warte!« Matt hielt sie zurück.
Zu Liliths Leidwesen stieg Matt nun von seinem Fahrrad ab. Sah er denn nicht, wie eilig sie es hatte?
»Ich bin froh, dass ich dich hier treffe«, setzte er an. Matts Gesichtsausdruck hatte sich verändert. Er seufzte tief und warf Lilith einen bittenden Blick zu. »Wir müssen unbedingt miteinander reden, aber in der letzten Zeit weicht Emma ja nicht mehr von deiner Seite – seit du so komisch zu mir bist.«
Lilith schluckte schwer. Genau vor diesem Gespräch hatte sie sich gefürchtet.
»Matt, jetzt passt es mir wirklich nicht«, warf sie nervös ein. »Können wir nicht ein andermal miteinander sprechen? Ich … ich muss etwas für meine Tante erledigen.«
Er sah die Querstraße entlang, in die Lilith gerade hatte abbiegen wollen. »Weißt du denn mittlerweile, wo die Crepusculelane ist?«
»Ja, wir … äh … waren gar nicht so weit davon entfernt, wie wir dachten.«
»Gut, dann begleite ich dich.« Matt stieg wieder auf sein Fahrrad.
»Nein«, rutschte es Lilith schärfer heraus, als sie vorgehabt hatte. »Das geht nicht!«
Sie räusperte sich, dann fügte sie in sanfterem Tonfall hinzu: »Ich meine, das brauchst du nicht. Das schaffe ich schon alleine.«
Matts Augenbrauen zogen sich zusammen. »Siehst du, genau das meine ich. Du gehst mir aus dem Weg, wann immer du kannst.«
Er stieß heftig die Luft aus. Es dauerte einen Moment, bis er sich wieder gefangen hatte, dann sagte er in vorsichtigem Tonfall: »Ich glaube, ich weiß, was mit dir los ist, und ich wollte dir sagen, dass es in Ordnung ist. Du brauchst dich deswegen nicht zu schämen.«
Lilith sah ihn irritiert an. »Warum sollte ich mich denn schämen?«
Dafür, dass du ihn andauernd belügst, schlug ihr eine innere Stimme sofort vor.
»Na, weil du dich in mich verliebt hast«, murmelte Matt. »Das ist wirklich okay, du musst mir deswegen nicht aus dem Weg gehen.«
»Wie bitte?«, schnappte Lilith.
Verwirrt blinzelte sie ihn an. Matt dachte, sie habe sich in ihn verliebt und sei deswegen so eigenartig? Aber … das war doch absurd, vollkommen lächerlich! Gegen ihren Willen prustete Lilith los. Erst als sie Matts wütenden Blick auffing, konnte sie sich bremsen.
Sie wurde wieder ernst. »Entschuldige, dass ich gelacht habe!«
»Du hast dich also nicht in mich verliebt?«
»Nein, tut mir leid.«
»Ist schon okay«, sagte er mit einer Stimme, die etwas verletzt klang. Er sah auf. »Aber was ist dann dein Problem? Kannst du mich plötzlich nicht mehr leiden?«
Lilith wich seinem Blick aus. »Nein, das ist es nicht. Matt, bitte …« Sie fixierte so angestrengt ihren Lenker, dass er fast vor ihren Augen verschwamm. »Ich muss jetzt wirklich weiter. Wir sehen uns morgen!«
Ohne ein weiteres Wort von ihm abzuwarten, trat Lilith in die Pedale.
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