Lilith Parker: Insel Der Schatten
Erst als sie die fünfte Querstraße erreicht hatte, sah sie über die Schulter zurück. Matt war nicht mehr zu sehen. Sie wollte schon befreit die Luft ausstoßen, doch das Gefühl der Erleichterung blieb aus.
In diesem Moment wünschte sie sich, sie hätte das Geheimnis von Bonesdale niemals aufgedeckt. Lilith fühlte sich elend. Vielleicht wäre es besser gewesen, Matt im Glauben zu lassen, sie hätte sich tatsächlich in ihn verliebt. Stattdessen hatte sie gelacht.
»Ich unsensible Kuh«, entfuhr es ihr leise. Lilith nahm sich vor, Matt gleich bei der nächsten Gelegenheit noch einmal darauf anzusprechen und sich bei ihm zu entschuldigen. Vielleicht fiel ihr bis dahin auch eine gute Erklärung dafür ein, warum sie Matt aus dem Weg gegangen war!
Lilith hob den Kopf und sah auf die düstere, von den Häuserzeilen zusammengepresste Querstraße. Wie schon beim ersten Mal konnte Lilith nur wenige Meter hineinsehen und das Ende der Gasse blieb in der Dunkelheit verborgen. Lilith stellte ihr Rad ab und beschloss, zu Fuß weiterzugehen. In den engen, schmalen Gassen würde sie ihr Rad nur behindern. Zielstrebig lief sie los.
Es war die gleiche tunnelartige Gasse, die sie zusammen mit Matt entlanggegangen war, doch schon nach einigen Metern veränderte sie sich. Zuerst dachte Lilith, sie bildete es sich nur ein, aber schon nach ein paar weiteren Schritten hatte sie Gewissheit: Statt stundenlang herumzuirren, war sie direkt in die Crepusculelane gelangt.
»Das ist doch unmöglich!«, entfuhr es Lilith laut, aber das Rufen der Händler, die schwatzenden Frauen an der Ecke und das Lachen einiger Passanten übertönten ihre Stimme.
Es war zweifelsohne dieselbe Gasse, mit denselben Häusern und Schaufenstern, doch heute sah sie vollkommen verändert aus. Überall herrschte eifrige Betriebsamkeit und ein Geschäft reihte sich an das nächste. Der erste Laden, an dem Lilith vorbeikam, gehörte einer Kräuterhexe. Ein intensiver Jasminblütenduft wehte aus der geöffneten Eingangstür. Daneben wies ein Schild darauf hin, dass sich im zweiten Stock die Praxis von »Dr. Schlotterstein, Spezialist für Leichenschnupfen und Extremitätenverlust« befand. Direkt daran grenzte ein Grabkranzladen. Der etwas zu klein geratene, rundliche Inhaber mittleren Alters stand vor seinem Geschäft und wies die vorbeiströmenden Leute darauf hin, dass er heute ein fantastisches Angebot für ein Trauergebinde mit Disteln und Lilien unterbreiten könne – er wandte sich an Lilith: »Na, Kleine, ich kann deiner Mutter den schönsten Sargkranz für ihre Wohnzimmerkommode bereiten, den sie sich nur wünschen kann. Willst du ihr nicht eine Freude machen?«
Lilith lehnte dankend ab und ging weiter. Es gab einen Innenausstatter, spezialisiert auf Gruft- und Mausoleendekoration und ein Tierladen warb damit, die besten Fledermäuse, Kröten, Ratten und Spinnen der Insel zu haben. In den Schaukästen hinter dem Schaufenster wuselte es beunruhigend. Liliths Blick fiel auf ein kleines Schild: Für Hexen auf Wunsch auch tot zu verkaufen. Sie überlief eine Gänsehaut.
Im Schaufenster einer Schneiderei entdeckte Lilith »Die besten Hexen- und Friedhofskutten« und ein sichtlich angeheiterter Mann wankte gerade aus dem Pub »Zur Blutbank«. Es gab mehrere Buchläden und sogar ein »Reisebüro Grusel«, das mit einem Last-Minute-Angebot für eine Untoten-Pauschalreise zu den schönsten Friedhöfen Englands warb.
Unter der Hausnummer 21 fand Lilith heute ebenfalls kein verlassenes Geschäft vor. Ein großes Schild über der Eingangstür verkündete, dass hier »Madame Sabatier, Giftmischerin« zu finden war. Hierher hatte Mildred sie also ursprünglich schicken wollen!
Lilith betrat den Laden und ein beißender, bitterer Geruch schlug ihr entgegen. In den Regalen an der Wand befanden sich wie in einer alten Apotheke Tonkrüge, die mit einer geschwungenen Handschrift sorgfältig beschriftet waren. Jedes Regal war unterteilt in aufsteigende Giftsorten, was an der zunehmenden Anzahl der aufgemalten Totenköpfe zu erkennen war. Ganz rechts befand sich eine vergitterte Vitrine, auf der fünf Totenköpfe mit gekreuzten Knochen vor allerhöchster Giftigkeit warnten. Ein Zettel informierte darüber, dass diese Gifte nur unter Nennung des genauen Einsatzzweckes verkauft wurden und der Kunde außerdem in Begleitung eines vertrauenswürdigen Bürgen erscheinen müsse. In der Ecke standen mehrere Fässer, die mit gefährlich aussehenden Giftzähnen und einem
Weitere Kostenlose Bücher