Liliths Kinder
nähergebracht. Die Regeln, nach denen das freudlose Leben hier seit Jahrhunderten funktionierte. Er hatte ihr sogar den »Pfeiler« gezeigt, der das Gewölbe des magischen Gefängnisses stützte, in das der Lilienkelch die Maya-Vampi-re und die Bevölkerung der ganzen Stadt gesperrt hatte. Im Grunde existierte diese kleine autarke Welt, die auch Nona mit Landrus magischem »Schlüssel« im Blut betreten hatte, gar nicht - zumindest nicht für die andere Welt, die Vampir, Werwolf und Mensch normalerweise als seine Wirklichkeit bezeichnete!
Als Gegenleistung für Zapatas Freundlichkeit hatte Nona ihm von dem Leben »draußen« berichtet. Ein Leben, das ihm nicht ganz fremd war, aber sein Wissen darüber war völlig veraltet. Er hatte es von einer Dienerkreatur, einem Spanier, der im 16. Jahrhundert den Dschungel Yucatans in Hernan Cortes' Auftrag nach einer sagenumwobenen Goldstadt der Mayas durchkämmt hatte. Gefunden hatte die von ihm angeführte Armee diese Stadt. Landru, der die Expedition inkognito begleitete, hatte sich auf die Seite der Mayas geschlagen und gegen den ausdrücklichen Willen der Macht, der er diente, acht Indio-Kinder einer Kelchtaufe unterzogen. Der Kelch hatte die Taufen vollzogen, danach aber in einer Weise reagiert, die keinen Zweifel ließ, daß die Macht, die ihn beseelte, ihre Autorität künftig nicht mehr in Frage gestellt sehen wollte .
Nonas Mienenspiel wurde undurchschaubar, als ihre Gedanken unvermittelt zu dem untoten Spanier schweiften, den sich Zapata in seinem Gemach in einer hohlen Ziersäule gehalten hatte - und noch hielt.
Was würde aus der Kreatur nach dem Tod ihres Herrn werden? Sie mußte den Todesimpuls gespürt haben. Und seither dem Wahnsinn nahe - auch vor ungestilltem Durst - an ihren Fesseln zerren .
Nona zweifelte daran, daß Zapatas Geschwister sich der Kreatur annehmen würden. Daß sie überhaupt auf den Gedanken kommen würden, die privaten Räume ihres toten Bruders zu inspizieren.
Seit Landru gegangen war, spürte Nona eine unheilvolle Tendenz, an der Lilith nicht ganz schuldlos war. Aber die Hauptschuld trug die Situation an sich.
Die Unzufriedenheit der Tyrannen, die es gewohnt gewesen waren, in ihres Vaters Abwesenheit allein und uneingeschränkt zu herrschen, hatte mit Landrus Rückkehr einen Katalysator erhalten, der den Kelchkindern ihre Gefangenschaft erst richtig bewußt ge-macht hatte. Und auch die Strenge ihres Vaters, mußte Nona einräumen, war mitunter über das Ziel hinausgeschossen .
Seufzend trat sie vom Fenster zurück, von dem aus sie die unter nächtlicher Sonne liegende Stadt betrachtet hatte, und versuchte sich wieder ihrem Problem zuzuwenden. Ihrer ureigenen Crux.
Auf einem kleinen, tischähnlichen Möbel lag eine dünne, bekritzelte Steintafel - der Kalender, den sie seit ihrer Ankunft in der Hermetischen Stadt führte.
Der Kalender, der behauptete, daß in der kommenden Nacht der Mond am vollstenmm Himmelszelt stehen würde. Trotzdem spürte Nona noch keinerlei typisches Anzeichen dafür. Keine Vorboten von Spannung und ... Gier. Von unstillbarer Sehnsucht, sich bis zur völligen Erschöpfung zu verausgaben - in einem Körper, der aus ihrer eigentlich zierlichen Gestalt hervorbrechen würde wie ein Alptraum ...!
Nein, da war nichts . gar nichts .
Habe ich nun auch noch das verloren ? fragte sich die Werwölfin, die zuvor schon den herben Verlust ihrer Unsterblichkeit hatte hinnehmen müssen (und nicht einmal das wirklich verarbeitet hatte).
Früher hatte sie den Fluch verflucht, der in ihrem Blut erwacht war, kaum daß sie vom Kind zur Frau gereift war.
Doch das war lange her, und inzwischen hatte sie sich der Sucht, zu jedem vollen Mond zu jagen, zu töten und zu fressen, mit Haut und Haar ergeben.
Der Trieb, den ihr Vater ihr vererbt hatte, bereitete ihr unvorstellbare seelische Qual - aber auch unvorstellbare Wonnen in dem Moment, wenn sie ihre Fänge in ein Opfer grub .
All das wollte sie nicht verloren geben.
Aber vielleicht, tröstete sie sich, verspätete sich das Gefühl für die bevorstehende Nacht auch nur ein wenig, weil hier alles anders war, hier in Mayab. Das magische Gewölbe verdüsterte gewiß nicht nur die Sonne, so daß sie bei Tag wie eine schwarze Scheibe am Himmel wanderte, es mochte auch Einfluß auf den Mond ausüben - über das Sichtbare hinaus.
Nona erwartete mit Spannung den Einbruch der hiesigen Nacht, die mit völliger Schwärze verbunden war. Kein Stern besaß genügend Leuchtkraft, um den
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