Liliths Kinder
hatte sie sich selbst beigebracht, um etwas von seinem Blut in eines der tönernen Gefäße fließen zu lassen, mit denen Angehörige der Priesterschaft seit einigen Tagen von Hütte zu Hütte gingen. Sie taten es auf Geheiß jener geheimnisvollen Frau, die von jenseits der Grenze gekommen war und Lilith geheißen wurde. Den Gerüchten nach war sie die Mutter der Tyrannen, was kaum jemandem in Mayab wirklich vorstellbar schien - zu gewaltig war der Unterschied zwischen dem Gebaren dieser Lilith und dem ihrer »Kinder«.
Mit den Fingern seiner Rechten rieb Vador nachdenklich über die verbundene Wunde an seinem linken Handgelenk.
»Dann sind unsere Opfer also vergebens«, sagte er. Verbitterung und Enttäuschung drohten ihm die Stimme zu ersticken.
Copan schüttelte bedächtig den Kopf.
»Nein, vergebens sind sie nicht. Denn jeder einzelne Tag, an dem die Tyrannen unser Volk nicht heimsuchen und der kein Leben kostet, ist ein Geschenk - und jedes Opfer wert.«
Er lächelte, gütig und in der Hoffnung, daß seine Worte Vador hel-fen würden, nicht allen Mut fahren zu lassen. Es gelang ihm sogar, eine Wärme, die er nicht wirklich empfand, in den Blick zu legen, mit dem er den jüngeren Mann maß.
Und Vador erwiderte das Lächeln.
»Du hast recht«, sagte er, »so muß man die Dinge sehen. Dann gewinnt man ihnen einen Sinn ab.«
»Das Leben in Mayab lehrt einen diese besondere Sicht der Dinge«, meinte Copan. Seine Hand beschrieb einen vagen Kreis, der ihre kleine Welt symbolhaft umschließen sollte. »Die allergeringsten Annehmlichkeiten genügen mir, jedem Tag etwas Gutes abzutrotzen - und halten den Wunsch wach, auch den nächsten Tag erleben zu dürfen.«
Vador nickte. Er wußte, worauf der Alte anspielte. Viele Menschen verloren in Mayab den Lebensmut, weil ihnen ein solches Leben nicht lebenswert genug schien, um es weiterhin zu ertragen. Sie kürzten ihren eigenen Weg zum Tod ab - darauf hoffend, daß ihr toter Leib keinen Schmerz mehr empfinden würde. Denn Selbstmorde wurden von den Tyrannen auf schreckliche Weise geahndet: Sie verstümmelten die Leichname und zwangen die Angehörigen der Toten zum Zusehen, um potentielle Nachahmer abzuschrecken.
»Warten wir ab, was die Zukunft bringt«, sagte Copan. »Andern werden wir die Dinge ohnedies nicht - was geschehen soll, wird geschehen.«
Vadors Blick ruhte einen Moment lang auf dem Alten, dann schweifte er wieder hinüber zum Tempelbezirk, der beinahe in Dunkelheit versunken war. Ein eigentümlicher Ausdruck in Vadors Augen alarmierte Copan - weil er ihm fremd schien; zumindest hatte er diesen Ausdruck nie zuvor in solcher Stärke im Blick irgendeines Menschen hier gesehen: eine Mischung aus Hoffnung und Trotz -vielleicht ein Zeichen des Willens, sich gegen das Schicksal aufzulehnen .
Und in der Tat - Vador verdrehte Copans Worte nur geringfügig, bestätigte damit aber dessen Verdacht: »Vielleicht haben wir zu lange darauf gewartet, was die Zukunft bringt. Vielleicht können wir sie selbst bestimmen - wenn wir nur bereit wären, die Dinge zu ändern.«
Rasch schaute Copan sich nach allen Seiten um. Seine Miene verriet Unbehagen und Furcht in einem.
»Du solltest keine solch gewagten Reden führen, mein Freund«, warnte er. »Wenn auch die Dinge in Fluß geraten sind und sich vielleicht verändern, so mag die Nacht in Mayab noch immer tausend Augen und Ohren haben.«
Vador senkte den Blick. Die Geste als solche sollte wohl Schuldbewußtsein ausdrücken, der beunruhigende Ausdruck in seinen Augen indes blieb.
»Ich sollte gehen«, sagte er leise. »Frau und Kinder erwarten mich. Ich möchte nicht, daß sie sich unnötig sorgen.«
»Natürlich. Geh nur. Geh rasch.« Copan nickte lächelnd und fügte seinen Worten in Gedanken noch hinzu: Und komm zur Besinnung, du Narr! Gib dich nicht trügerischer Hoffnung hin! Und fordere nicht leichtfertig Mächte heraus, die uns alle in ewiges Unglück stürzen können .!
Vador bückte sich und nahm ein Bündel Maiskolben auf, die er zuvor von den Stauden gepflückt hatte. Er nutzte das Feld, wie es auch Copan tat. Mehrere Familien teilten sich die Früchte des Feldes, das sie auch gemeinsam bewirtschafteten.
Ein gemurmelter Gruß noch, dann hatte die Nacht Vador auch schon verschlungen.
Copan blieb zurück, allein mit seinen bislang schon gehegten Befürchtungen - aber nunmehr auch erfüllt von neuen.
Die Andeutungen, die Vador gemacht hatte, wollten ihm ganz und gar nicht gefallen. Allein seine Worte
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