Lilly Höschen (01): Walpurgismord
ein paar Tage in Untersuchungshaft verbracht. Wahrscheinlich hätte er nicht einfach so verschwinden sollen, ohne jemandem zu sagen, wo er hin will. Da mussten natürlich sämtliche Alarmglocken läuten, als man seine Frau ermordet aufgefunden hatte. Andererseits: Wie hätte er denn ahnen können, dass seine Frau eines gewaltsamen Todes sterben würde? Nachdem sein Alibi gründlich überprüft war, wurde er wieder nach Hause geschickt. Er nahm sich zwei Wochen Urlaub, um sich um die Beerdigung seiner Frau zu kümmern und um sich selbst. Denn er war mit den Nerven am Ende. Er ließ noch einmal alles Revue passieren, was in letzter Zeit geschehen war: Seine Frau hatte ein Verhältnis mit einem jungen Mann, und er musste dies durch Zufall im Gerichtssaal erfahren. Dann war seine Frau verschwunden. Alle Welt erfuhr von diesem Vorgang und man lachte sich tot über ihn. Er nahm ein paar Tage Urlaub, um mit sich und der Welt wieder in Einklang zu gelangen. Und als er zurückkam, erfuhr er, dass seine Frau inzwischen ermordet war. Er ging zur Polizei und wurde vorläufig festgenommen, weil man ihn offenbar für den Mörder hielt. Das war ja so schön einfach für die Polizei. Irgendjemand hatte es darauf angelegt, ihn unter Mordverdacht zu bringen. Das war natürlich unhaltbar und er war schnell wieder frei. Inzwischen hatte er seine Frau beerdigt. Sein gewohntes Leben war ein für allemal passé. Zu allem Überfluss hatte er sich auch noch mit Lilly Höschen getroffen und ihr etwas anvertraut, was er über dreißig Jahre lang niemandem erzählt hatte. Was für ein Teufel hatte ihn bloß geritten, das zu tun? Hoffentlich würde sie erstmal den Mund halten. Nun saß er da und wusste nicht, wie es weitergehen sollte.
Inzwischen war es Abend geworden. Den ganzen Tag hatte er sich mit unwichtigen Dingen beschäftigt, um nicht nachdenken zu müssen. Er setzte sich in seinen Lieblingssessel und nahm die Tageszeitung vom Morgen, um sich weiter abzulenken. Als er in der Rubrik Aus aller Welt las, wurde er weiß im Gesicht:
85-jähriger Pater bestialisch ermordet lautete die Überschrift. Und dem knapp formulierten Artikel war zu entnehmen, dass ein gewisser Pater Sigismund R., der jahrzehntelang als Lehrer und Erzieher in einem bayerischen Internat gewirkt hatte, erwürgt in seiner Wohnung aufgefunden worden war. Er lag bäuchlings über dem Tisch mit heruntergelassener Hose. Und der Täter hatte ihm einen Rohrstock in den Hintern gesteckt. Gutbrodt lachte kurz und heftig auf. Dann raufte er sich die spärlichen Haare und sagte: »Das hast du jetzt davon, du Arschloch!« Und nach einer kurzen Pause: »Um Gottes Willen! Georg!«
Bayern, 1962
Hans schlief, wie die meisten Jungen in diesem Internat, in einem Sechsbettzimmer. Das Licht wurde um 21.30 Uhr ausgestellt. Dann hatte abolute Ruhe zu herrschen. Wer beim Quatschen erwischt wurde, bekam von Pater Sigismund den Rohrstock übergezogen. Aber das war nicht das Schlimmste.
»Bitte, lieber Gott, mach, dass er heute nicht wieder Georg holt«, betete Hans leise vor sich hin.
Georg gehörte zu denen, die der Pater in unregelmäßigen Abständen zu sich in sein Zimmer holte. Sigismund war für insgesamt dreißig Schüler zuständig. Von diesen gehörten meist drei bis vier zu den Besonderen, die er abends, wenn alle zu schlafen hatten, einzeln holte. Nach einiger Zeit kamen sie wieder zurück. Niemand erzählte je, was in dem Zimmer des Paters vor sich ging. Hans bekam nur mit, dass Georg furchtbare Angst davor hatte. Und jedesmal, wenn er dran war, weinte er hinterher fürchterlich und am nächsten Tag war mit ihm nichts anzufangen.
Es war Georgs und Hans‘ erstes Jahr auf dem Internat. Die Eltern beider Jungen waren katholisch, was in Niedersachsen eher die Ausnahme war. Und sie wollten ihren Söhnen etwas besonders Gutes tun, indem sie sie in ein katholisches Internat steckten. Allerdings ging es hier anders zu, als die Eltern es sich wohl in ihrem Idealismus vorgestellt hatten. Es wurde zwar viel gebetet und es wurde gepaukt. Die Hauptbeschäftigung jedes Jungen bestand jedoch darin, gut über den Tag zu kommen, nicht aufzufallen, jede noch so kleine Kleinigkeit zu vermeiden, die einem Lehrer oder Erzieher Anlass geben könnte, einen Schüler zu bestrafen.
Heute abend wurde sein Gebet nicht erhört. Die Tür öffnete sich ganz leise und Pater Sigismund ging langsam an Georgs Bett. Natürlich tat dieser so, als würde er schlafen. Aber das nützte nichts. Er würde
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