Lilly Höschen (01): Walpurgismord
mitgehen müssen.
Lautenthal, 30. Juli 2010
»Tante Lilly, du wirst nicht glauben, wer uns heute abend besuchen will«, sagte Amadeus ins Telefon.
»Lass mich raten: Der Premierminister von Grönland. Er will mich wahrscheinlich bitten, dir gut zuzureden, dass du einen Job in seiner Regierung annimmst.«
»Kalt.«
»Da hast du recht, mein Junge. In Grönland ist es kalt. Deshalb werde ich ihm auch sagen, dass er sich einen anderen suchen muss.«
»Tante Lilly, du hast heute den Schalk im Nacken. Aber ich werde es dir trotzdem sagen: Hans Gutbrodt.«
»Ach du meine Güte. Der hat mir gerade noch gefehlt.«
Amadeus hatte Hans Gutbrodt in Lillys Haus eingelassen. Er betrat jetzt das Wohnzimmer. Lilly saß in ihrem Sessel und begrüßte ihn mit den Worten:
»Ich hoffe, Sie haben sich gut überlegt, was Sie tun, Herr Gutbrodt.«
»Guten Abend, Fräulein Höschen. Ja, das habe ich. Ich halte es sogar für eminent wichtig, Ihnen und Ihrem Großneffen einiges zu erzählen. Wenn ich mit meinen Befürchtungen richtig liege, dann könnten Sie beide in großer Gefahr schweben. Von mir will ich gar nicht reden.«
»Sie machen es spannend. Also setzen Sie sich. Möchten Sie etwas trinken?«
»Nein, danke.«
»Amadeus, hol bitte die Cognacflasche und drei Gläser. So, wie Herr Gutbrodt sich anhört, werden wir einen Schnaps gebrauchen können.«
Amadeus schenkte Cognac ein, während Lilly sich einen Zigarillo ansteckte.
»Bevor Sie anfangen, Herr Gutbrodt, lassen Sie mich sagen, dass ich meinem Großneffen noch nichts erzählt habe. Und dir, Amadeus, möchte ich sagen, dass ich neulich bereits ein Gespräch mit Herrn Gutbrodt hatte, in dem er mir einiges von dem erzählt hat, was er wohl heute auch dir berichten wird. Sei mir nicht böse, dass ich dir das verschwiegen habe. Aber ich musste das alles erst mal sortieren. Und dann kam auch noch der Mord dazwischen.«
»Was denn, ihr beide habt Geheimnisse vor mir?«, fragte Amadeus ganz ungläubig und sah von Lilly zu Gutbrodt.
»Nur ein Geheimnis; aber das werde ich jetzt lüften und dazu noch einiges mehr«, antwortete Gutbrodt und goss seinen Cognac in einem Zug herunter.
Die Spannung in dem Zimmer war kaum noch zu ertragen. Endlich holte Gutbrodt tief Luft und erzählte:
»Es fing vor fast fünfzig Jahren an. Georg, dein Vater, Amadeus... Entschuldigung, ich sage jetzt einfach du , das macht es mir leichter. Also Georg, der Mann, den du immer für deinen Vater gehalten hast...«
»Was ist los? Er war mein Vater.«
»Amadeus, lass ihn einfach ausreden«, warf Lilly ein.
»Also, Georg und ich waren zusammen im Internat in Bayern. Das waren absolut beschissene Jahre. Wir wurden geschlagen und missbraucht. Besonders auf Georg hatte es dieser miese Schweinepriester abgesehen. Er hat ihn nachts aus dem Bett geholt und mit in sein Zimmer genommen. Er hatte erst Ruhe, als ein neuer Junge kam, den er dann auserkoren hatte, ihm dienlich zu sein. Diese Zeit haben wir nur überstanden, weil wir Freunde waren.«
Lilly verzog angewidert das Gesicht und Amadeus sagte:
»Er hat nie viel über seine Kindheit erzählt, weder vom Internat noch von seinen Eltern.«
»Das wundert mich nicht«, fuhr Gutbrodt fort. »Wer erzählt schon gern etwas über solche Demütigungen oder über Eltern, die einem das eingebrockt haben? Nun, jedenfalls wurde es besser, als ein anderer Junge auf das Internat kam, mitten im Schuljahr. Michael hieß der arme Kerl, der dann alles abgekriegt hatte. Und als das Schuljahr beendet war, bekamen wir einen anderen Betreuer. Allerdings war der auch ein Schwein. Aber darüber will ich jetzt weiter nichts sagen. Schließlich haben Georg und ich dieses Internat hinter uns gebracht und waren auch danach noch Freunde. Etliche Jahre später habe ich mich in ein Mädchen verliebt. Sie hieß Miriam und war deine Mutter.«
Amadeus hing Gutbrodt an den Lippen, nahm geistesabwesend die Cognacflasche und schenkte sich nach, während Hans Gutbrodt fortfuhr:
»Wir wohnten damals in Hannover. Selbstverständlich lernte Miriam dann auch Georg kennen. Und wie es so geht im Leben, hat sie sich in ihn verliebt, und unsere Beziehung ging zu Ende. Mir hat es das Herz gebrochen, Miriam zu verlieren. Und natürlich war ich wütend auf Georg. Sobald ich das Studium beendet hatte, zog ich weg, wollte nichts mehr hören und sehen von den beiden.
»Hast du sie danach noch mal wiedergesehen?«, wollte Amadeus wissen, dem gar nicht bewusst war, dass er Hans Gutbrodt zum
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