Lilly unter den Linden
wenigen Wochen entfernt wurde und deren Beseitigung für viele in Ritas Umgebung offenbar eine Art Neubeginn markierte. Rita, so lautete die einhellige Meinung, war alt genug, um ihre Eltern nicht mehr zu brauchen, und jung genug, um über das tragische Erlebnis hinwegzukommen. Jeder lobte sie für die Tapferkeit und die vorzügliche Haltung, die sie an den Tag legte.
Zwei Tage, nachdem die Halsstütze abgenommen worden war, brach Mami auf dem Pausenhof in Tränen aus und wollte nicht mehr aufhören zu weinen. Eine Traube aus Lehrerinnen und Klassenkameradinnen umringte sie in dem ebenso rat- wie fruchtlosen Bemühen, ihr Trost zu spenden, bis schließlich jemandem einfiel, dass doch Ritas Schwester als Lehramtsanwärterin an der Schule hospitierte. Lena bekam unterrichtsfrei und fuhr Rita auf dem Gepäckträger ihres Fahrrades nach Hause, wo sie einige Stunden guten Zuredens brauchte, um festzustellen, dass ausgerechnet die Entfernung der Halsstütze Ritas seit Wochen schwelende Depression zum Ausbruch gebracht hatte.
»Jetzt sieht man nicht einmal mehr, dass überhaupt etwas passiert ist!«, schluchzte Rita. »Dabei ist hier drinnen«, sie schlug heftig an ihre Brust, »alles kaputt! Ich kann nicht mehr schlafen, nicht mehr lernen, ich träume schreckliche Sachen und mag niemanden mehr sehen! Ich wünschte, ich wäre tot! Warum kann ich nicht auch tot sein?«
»Vielleicht wirst du noch für irgendetwas gebraucht«, sagte Lena mit zitternder Stimme und streichelte Ritas tränennasse Wange. »Von mir ganz bestimmt, wenn ich auch zugeben muss, dass das ein schwacher Trost ist.«
»Erzähl keinen Mist!«, weinte Rita und putzte sich heftig die Nase. »Wenn ich mit den anderen gestorben wäre, hättest du nicht wieder nach Hause ziehen müssen! Du wärst lieber bei Bernd geblieben, gib es ruhig zu!«
»Bernd ist doch noch da und kann jederzeit hierher kommen. Rita, ich vermisse Mama und Papa auch ganz fürchterlich, aber ich will, dass wir es uns hier trotzdem schön machen. Das ist unser Zuhause, deins und meins …« Jetzt weinte Lena ebenfalls und musste eine Minute verstreichen lassen, ehe sie weitersprechen konnte. »Wir sind noch am Leben und wir haben einander. Ist das nichts?«
»Und wie soll es weitergehen?«
Die Frage stand einen Augenblick im Raum. Dann sagte Lena: »Von früher behalten wir alles, was geht. Ein paar neue Dinge kommen hinzu. Dann sehen wir weiter.«
Ein paar neue Dinge … dazu zählten ganz gewiss die Leseabende, die nun nicht mehr abwechselnd bei den sieben oder acht Mitgliedern von Lenas kleinem Lesezirkel stattfanden, sondern nur noch bei Engelharts zu Hause, wo sie eine verwaiste kleine Schwester zu beaufsichtigen hatte. Es war ein klirrend kalter Winter, so kalt, dass die Fensterscheiben knisterten und man an den langen Abenden nicht allein sein wollte.
Mami hatte keine Ahnung, wer aus der Gruppe die Bücher besorgte, die in der DDR nicht erhältlich waren, zum Teil sogar auf dem Index, der Liste verbotener Literatur, standen – sie wollte es auch lieber gar nicht wissen.
Aber dass Lena von Rudi, dem Studenten mit der Mütze, ab und zu einen dicken Stapel handgeschriebener Seiten bekam, war nicht zu übersehen.
Rita nahm an, dass Rudi einen »Giftschein« besaß, der ihm – natürlich rein aus Forschungszwecken – Zugang zu den entsprechenden Regalen in der Bibliothek verschaffte, in denen er Artikel aus der Öffentlichkeit nicht zugänglichen Zeitschriften heimlich abschrieb.
Das gedämpfte Klack-klack der kleinen Erika-Schreibmaschine, die Lena seit vielen Jahren benutzte, begleitete Rita in den folgenden Nächten in den Schlaf. Und morgens roch es in der Küche nach verbranntem Durchschlagpapier, da Lena lieber nicht riskieren wollte, dass jemand die Beweise ihrer nächtlichen Aktivitäten im Mülleimer fand.
»Hast du denn gar keine Angst?«, fragte Rita nicht ohne einen gewissen Vorwurf in der Stimme. Sie fand es zwar auch nicht gut, dass man in ihrem Land nicht alle Bücher lesen durfte, die es gab. Aber mit Sicherheit blieben doch ausreichend erlaubte Bücher übrig, mit denen man sich die Zeit vertreiben konnte.
»Ach, Angst«, sagte Lena wegwerfend. »Wir sind doch nur ein kleiner Kreis und wir kennen uns gut. Es ist ganz sicher niemand dabei, der etwas nach außen trägt, und im Übrigen werden sich die Dinge ohnehin bald ändern, pass mal auf!«
Lena und ihre Freunde setzten große Hoffnungen in Erich Honecker, den neuen Ersten Sekretär des
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