Lilly unter den Linden
Zentralkomitees, der ganz offen davon gesprochen hatte, dass es auf dem Gebiet der Kunst und Kultur im Sozialismus keine Tabus geben dürfe. Schon bald, davon waren sie überzeugt, würde in diesem Land ein anderer Wind wehen, und die neue Kulturpolitik würde erst der Anfang sein! Jeder aus Lenas kleinem Lesezirkel glaubte fest an die Macht des geschriebenen Wortes. Etwas wie Aufbruchstimmung lag in der Luft, deren Ausläufer auch Rita anwehten, selbst wenn sie nur der wohligen Wärme im Wohnzimmer wegen bei den anderen saß und mit halbem Ohr lauschte.
Ja, es entging selbst Rita nicht, dass in diesem Winter eine gänzlich andere Stimmung herrschte als noch vor drei Jahren, als der Einmarsch sowjetischer Truppen in der Tschechoslowakei dem hoffnungsvollen »Prager Frühling« ein Ende bereitet hatte. Damals war an Lenas Uni die Hölle los gewesen, und Rita erinnerte sich noch gut an den Streit, den ihr Vater vom Zaun gebrochen hatte, als er per Linoldruck vervielfältigte Flugblätter bei ihrer Schwester fand: »Hoch lebe DubČek! Unterstützt das tschechoslowakische Volk! Okkupanten raus aus der ČSSR!«
»Willst du deinen Studienplatz verlieren?«, herrschte er sie an. »Dann mach nur so weiter, aber nicht hier unter meinem Dach!«
Rita glaubte nicht, dass Papa Lena wirklich hatte hinauswerfen wollen, aber wenig später zog sie tatsächlich mit Sack und Pack zu ihrem Freund Bernd, mit dem sie bereits seit der Schulzeit zusammen war. Von dem Tag an hatten sich die beiden Schwestern nur noch selten gesehen. Ganz gewiss gehörte es auch zu den »neuen Dingen«, von denen Lena gesprochen hatte, dass sie einander wieder neu kennen lernen mussten.
Vielleicht hoffte sie, dass Ritas Teilnahme an den Leseabenden dazu beitrug. Aber Rita hatte keine Lust, den Lesungen zuzuhören, sie war kein Bücherwurm und überdies noch viel zu sehr mit sich selbst und ihrer veränderten Lebenssituation beschäftigt, um irgendwelchen womöglich illegalen Aktivitäten einen Reiz abzugewinnen. Politik war ihr egal, die ihr zugedachte Erziehung zum »sozialistischen Menschen« ließ sie kalt, im Gegensatz zu Lena hegte Rita auch nicht die Hoffnung, in der Welt etwas bewegen zu können. Sie hoffte, dass die Versorgung mit tragbarer Jugendmode sich bessern würde, dass sie, nachdem der arme Papa das Auto kaputtgefahren hatte, nicht wieder fünfzehn Jahre auf ein neues würden warten müssen, dass sie vielleicht sogar ein Telefon bekamen wie erst vor kurzem die Familie von Margot, die in der Schule neben ihr saß. Rita hatte bescheidene Wünsche, und sie wollte von nichts träumen, was sie ja ohnehin nicht beeinflussen konnte.
Dabei musste sie ehrlicherweise zugeben, dass sie nicht wenig Neid empfand, wenn Lenas Freunde eintrafen, wenn sie sich in vertrauter Runde um den Couchtisch auf den Boden setzten, an Sofa und Sessel gelehnt, und wenn der Vorleser mit seiner weichen Stimme vorzutragen begann. »Der Vorleser«, so nannte sie ihn, weil sie sich an den Namen, mit dem er sich vorgestellt hatte, nicht erinnern konnte. Er war einige Jahre älter als die anderen, oder vielleicht wirkte er nur so, da er eine so ruhige, besonnene Art hatte?
Von den anderen kannte und mochte sie nur Lenas jovialen, immer vergnügten Freund Bernd, der häufig am Familientisch zu Gast gewesen war und bei der Beerdigung sogar eine Rede gehalten hatte. Offenbar sah er sich bereits als neues Familienoberhaupt. Rita hatte nichts dagegen, sie fand, dass Lena mit Bernd Glück gehabt hatte. Bernd gehörte nicht zu diesen wichtigtuerischen Intellektuellen, die anderen fortwährend ihre Meinung aufdrängen mussten; er schrieb an seiner Diplomarbeit im Forschungszentrum des VEB Carl Zeiss Jena und hatte außer seinem Steckenpferd, dem wissenschaftlichen Kleinstgerätebau, wenig im Sinn. Ständig tüftelte und zeichnete er, selbst sein winziger Taschenkalender war mit Skizzen übersät und ab und zu reichte er »Erfindungen« ein. Rita vermutete, dass er nur Lena zuliebe die Abende im Lesezirkel absaß. Bei der Diskussion, die der Lektüre folgte, redete er fast ebenso selten wie Rita, die nie den Mund aufmachte, und wenn sie verstohlen ein Gähnen unterdrückte, zwinkerte er ihr zu. Rita hatte einen heimlichen Verbündeten in der Runde, und das tat gut. Allerdings war Bernd nicht regelmäßig dabei; er war ein geschickter Handwerker, der nach Feierabend recht ordentlich verdienen konnte, und Lena würde es bei ihm auch in dieser Hinsicht an nichts fehlen.
Während
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