Lilly unter den Linden
der Vorleser Seite um Seite umblätterte, schweiften Ritas Gedanken in die Ferne und drehten sich um die Frage, wie sie selbst ohne die Unterstützung ihrer Freundin Verena das Abitur und weitere dunkle Stunden der nahen Zukunft bewältigen sollte. Seit dem Unfall hatte Rita mit einem geradezu katastrophalen Einbruch ihrer schulischen Leistungen zu kämpfen. Seit der ersten Klasse hatten sie und Verena miteinander gelernt, die blitzgescheite Verena aber hatte im letzten Sommer nicht mit ihr auf die Oberschule wechseln dürfen, da sie als überzeugte Christin kein ausreichendes »gesellschaftliches Engagement« an den Tag legte. Beiden Mädchen war immer klar gewesen, dass es so kommen würde, denn Verena hatte schon als Kind nicht den Jungpionieren angehört, später die Jugendweihe verweigert, und man wusste, worauf das hinauslief. Trotzdem hatte Rita zum ersten Mal in ihrem Leben einen Anflug von Trotz und Rebellion gegen ihr Land verspürt, als sie nach den Sommerferien ohne ihre beste Freundin den Klassenraum betrat. Dass Verena nicht das Abitur machen durfte, bloß weil sie kein Blauhemd trug, das war einfach nicht gerecht! Dass sie ausgerechnet im Jahr des Unfalls nicht mehr da war, wo Rita mehr denn je eine Freundin gebraucht hätte, war schlimm. Und dass Rita in diesem Jahr ohne sie ins Zivilverteidigungslager fahren musste, war eine grauenhafte Vorstellung.
Denn nicht nur ihre immer schlechter werdenden Noten, auch das obligatorische ZV-Lager für die Mädchen am Ende der elften Klasse lag wie ein Schatten über dem Rest des Schuljahrs. Rita fragte sich, wie sie es ohne Blamage überstehen sollte. Seit dem Unfall hatte sie Angst vor vielen Dingen, aber am meisten fürchtete sie die strenge Disziplin des zweiwöchigen Lagers, den militärischen Drill und die hervorgebellten Befehle, die lächerlichen Strafen für schlecht gemachte Betten und unordentliche Spinde. In ihren Träumen lebte Rita in permanenter Angst davor, irgendetwas angestellt zu haben, dessen Entdeckung durch den Röntgenblick eines weiblichen Unteroffiziers nur eine Frage der Zeit sein konnte. Man würde sie vor allen anderen zur Rede stellen, und wenn sie dann zu weinen begann, war sie für den Rest des Lagers unten durch, ein begehrtes Objekt für Zank und Quälerei. Rita gab sich keinen Illusionen hin, sie wusste, dass sie in ihrer derzeitigen Verfassung die Tränen nicht würde zurückhalten können, wenn man sie anbrüllte oder auch nur schief ansah.
Wozu sollte sie da »Nachdenken über Christa T.«? Was hatten die Lieder von Wolf Biermann mit ihr zu tun?
Aber im tiefsten Inneren beschlich Rita eine mit jedem Leseabend deutlichere Ahnung, dass man die Härten des Alltags besser ertrug, wenn man Hoffnungen und Visionen hatte wie Lena und ihre Freunde, wenn es einem gelang, das Blickfeld zu weiten. Und das, weniger die Vertrautheit der jungen Leute untereinander, war der Grund für ihren Neid.
Als sie eines Abends aufstand und die Teetassen forträumte, während die anderen sich verabschiedeten, kam der Vorleser hinter ihr her in die Küche.
»Lena hat mir erzählt, dass du Probleme in Mathe hast«, kam er ohne Umschweife zur Sache. »Ich helfe dir, wenn du willst.«
»Nein, danke, nicht nötig«, antwortete Rita sofort. Es stimmte zwar, Lena half ihr in allen anderen Fächern bis auf Mathe, wo sie selbst überfordert war. Doch warum hatte sie nicht wenigstens vorher gefragt, ob sie jemanden darum bitten durfte? Ritas Ohren färbten sich rosa. »Ich komme schon klar.«
Der Vorleser nahm ihr die Tassen aus der Hand und stellte sie in den Spülstein. »Überleg es dir«, sagte er. »Es kostet euch nichts, ich mache das gern.«
Er bedachte Rita mit einem scheuen, freundlichen Lächeln, bevor er zu den anderen hinausging. Seine schöne Stimme kannte sie schon, doch noch nie waren ihr seine warmen, freundlichen Augen aufgefallen. Rita dachte einige Tage darüber nach, und am Ende des nächsten Leseabends fasste sie sich ein Herz und teilte dem Vorleser mit, dass sie es gern versuchen würde.
Seltsam, aber von da an wurde alles leichter: Andere Menschen, unbekannte Situationen, die langen Nächte und düsteren Befürchtungen, die sie um den Schlaf gebracht hatten, verloren einen großen Teil ihres Schreckens, nachdem Rita zum ersten Mal seit langem wieder einen Schritt aus ihrem Schneckenhaus gewagt hatte.
Meine Mutter Rita wurde nie eine gute Schülerin, aber sie hielt sich über Wasser und erlangte im Frühjahr 1973 mit einer
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