Lilly unter den Linden
durchschnittlichen Note das Abitur – gemeinsam mit ihrer Schulkameradin Hanna, die beim Zivilverteidigungslager ihre neue Freundin geworden war. Sie blieb ihr Leben lang ein wenig schüchtern, aber der Vorleser war es auch, und es dauerte nicht lange, bis sie feststellten, dass sie einander vertrauten. Rita wurde nie ein großer Bücherfreund, aber dem Vorleser hörte sie gern zu und manches von dem, was er gelesen hatte, erkannte sie noch viele Jahre später wieder, als sie längst im Westen lebte und ihr achtzehntes Lebensjahr sehr, sehr weit entfernt schien.
Natürlich kannte sie da längst seinen Namen. Der Vorleser hieß Rolf, Rolf Wollmann. Er würde Ritas Schwager, Lenas Ehemann, mein Onkel werden, aber das konnte zu diesem Zeitpunkt noch niemand wissen – oder doch?
Ich konnte es kaum abwarten, bis es am nächsten Tag wieder Abend wurde und meine Mutter weitererzählte. Natürlich bestürmte ich sie mit vielen Fragen. Vor allem wunderte es mich, dass die Gruppe keinen gewitzten Fluchtplan ausgeheckt und sich auf abenteuerlichen Wegen in den Westen durchgeschlagen hatte, wo sie hätten lesen können so viel sie wollten.
Aber Mami sagte: »Selbst wenn die Grenzen weit offen gestanden hätten, wären sie nicht gegangen. Sie waren aus tiefstem Herzen Kommunisten. Es gab von ihrer Seite viel Kritik an dem, was bei uns ablief … aber niemals einen grundsätzlichen Zweifel am Sozialismus. Das war die Staatsform, unter der sie leben wollten, das bessere Deutschland – so einfach war das.«
»Das verstehe ich nicht. Hier ist es doch viel besser!«, rief ich enthusiastisch. »Wir sind frei, wir können alles kaufen, was wir brauchen, wir können uns ins Auto setzen und fahren, wohin wir wollen …«
»Moment! Du und ich, wir können das«, erwiderte Mami. »Aber denk doch mal an Herrn Fitz, der keine Arbeit mehr hat. Kann der alles kaufen, was er gern hätte? Kann er im Ausland Urlaub machen? Er kann sich nicht einmal ins Auto setzen und losfahren, weil er sich gar kein Auto leisten kann! Von der Freiheit, die wir haben, profitiert nämlich nicht jeder im gleichen Maße. Die Kommunisten wollen, dass es keine Unterschiede mehr gibt. Sie wollen Besitztümer so umverteilen, dass sie allen gemeinsam gehören, dass jeder das Gleiche hat.«
»Dann werde ich auch Kommunist«, erklärte ich kurz entschlossen. »Das finde ich gut.«
Pascal kicherte.
»Wenn es so einfach wäre, Lilly«, sagte Mami leise. »Die Menschen wollen doch gar nicht das Gleiche. Sie wollen immer mehr und immer besser sein als andere. Die Kommunisten glauben, man könne sie zum Umdenken erziehen. Sie stellen eine Menge Regeln und Verbote auf und wachen mit allen Mitteln über deren Einhaltung.
Aber gleichzeitig machen sie für sich selbst Ausnahmen und verschaffen sich alle möglichen Vorteile. Dann fängt eine kleine Gruppe an, Dinge für sich zu behalten, die eigentlich für alle bestimmt sind, und niemand kann etwas dagegen tun, weil diese Gruppe zu mächtig ist. Sie tut alles, um ihre Stellung zu bewahren und Widerstand zu unterdrücken, und so passiert es dann. Die Bevölkerung und die, die sie regieren, stehen sich auf unterschiedlichen Seiten gegenüber.«
Mami nahm einen großen Schluck Wein.
»Wenn du mich fragst – Gleichheit für alle gibt es nicht«, sagte sie hart. »Das liegt einfach nicht in der Natur des Menschen.«
»Mami, warum verbietet man eigentlich Bücher?«
»Weil sie die Leute auf Ideen bringen.«
Im Herbst 1972 feierte meine Mutter ihren achtzehnten Geburtstag, ging ins letzte Schuljahr und dachte darüber nach, was anschließend aus ihr werden sollte. Zum Studieren hatte sie keine Lust, und die Möglichkeiten zur Facharbeiterausbildung waren in den Jenaer Betrieben so zahlreich, dass sie sich umso schlechter entscheiden konnte. Lena brachte diese Unentschlossenheit zur Verzweiflung. »Willst du etwa warten, bis sie dich irgendwo zuteilen?«, fragte sie entrüstet.
In Wahrheit fand Rita es gar nicht so schlimm, einen Ausbildungsplatz zugeteilt zu bekommen, was in der Mehrzahl der Fälle ohnehin passierte, selbst wenn die künftigen Lehrlinge einen konkreten Berufswunsch hatten. Rita war es egal, was sie machte, solange es einigermaßen sauber war und ihren Lebensunterhalt gewährleistete. »Dieses phlegmatische Desinteresse am Leben« trieb ihre Schwester die Wände hoch, aber was konnte Rita dafür? Ihr fehlte einfach die Fantasie, in die Zukunft zu blicken und zu erkennen, was möglicherweise in ihr
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