Lillys Weg
anderen Zustand begleitet. Ich spüre, dass sich die Zeitstränge vermischen, als ob Gegenwart und Vergangenheit gleichzeitig da wären. Tjalles Stimme leitet mich von Bild zu Bild. Sie stellt mir Fragen und ich sehe Bilder, die ich beschreiben kann.
Ich liege in einem groÃen Raum aufgebahrt. Es ist still und ich bin allein. Eine alte Frau, sehr alt und sehr würdig. Ich spüre, dass die Kleider auf meinem Körper kostbar sind. Ich nehme es ganz in der Ferne wahr, ich bin eigentlich schon tot. Aber ein Teil von mir will nicht gehen. Ich will jemanden umarmen, aber meine Arme sind mit Bandagen am Körper festgebunden. Ich weiÃ, dass das Teil der Kultur ist, in der ich lebe. So werden Tote bestattet. Ein kleiner Funke von mir ist noch da und wartet. Ich sehne mich nach jemandem, aber niemand kommt. Die Türen zur Halle, in der ich aufgebahrt bin, bleiben geschlossen. Ich ergebe mich meinem Schicksal.
Ich höre in der Ferne Tjalles Stimme: âSchau zurück, was vor deinem Tod geschah.â
Ich bin ein junges Mädchen und trage ein weiÃes, langes Kleid. Neben mir, an meiner rechten Seite, sitzt meine Zwillingsschwester. Auch sie trägt ein weiÃes Kleid. Wir sind eins. Vollständig.
Dann kommt der Mann. Er trägt einen schwarzen Umhang und reiÃt mich von ihr weg. Ich schreie, aber niemand hilft mir. Er bringt mich in eine Lehmhütte. Von nun an trage ich schwarze Kleider und rühre in einem Topf, der auf dem Feuer steht. Dann werde ich eines Tages befreit. Ich bekomme ein neues Leben. Jemand hat mich als Tochter adoptiert. Meine Zieheltern sind mächtig und angesehen. Aber das Leben ist falsch. Ich gehöre irgendwohin, wo meine Schwester auf mich wartet. Mein letzter Gedanke ist: âIm nächsten Leben werde ich sie finden.â
Ich fliege durch Welten und Zeiten und weiÃ, dass ich auf der Suche nach dem richtigen Leben bin, wo ich ihr wieder begegne. Tjalle leitet mich weiter: âUnd jetzt, in diesem Leben, was spürst du hier? Wie ist es im Bauch deiner Mutter?â
Es ist warm und gut. Neben mir liegt meine Schwester in Âeinem eigenen, kleinen Beutel. Ich kann sie spüren. Nur sie. Meine Mutter ist weit weg, sie scheint mit anderen Dingen beschäftigt zu sein. Es spielt keine Rolle. Amata ist da. Ich erinnere mich, dass das Mädchen im weiÃen Kleid so hieÃ. Wir haben uns wiedergefunden.
Mein Glück dauert nur kurz. Dann wird mir plötzlich kalt. Ich will mich an Amata wärmen, aber sie ist nicht mehr da. Der kleine Beutel, in dem sie gewohnt hat, ist leer. Sie hat ihn aufgemacht wie den ReiÃverschluss zu einem Kleid, das sie doch nicht tragen will. Meine Zwillingsschwester ist gegangen. Ich weine bitterlich und höre Tjalles Stimme: âSchau dich um, vielleicht ist sie auf andere Weise bei dir geblieben?â
Ich spüre, dass ich ganz leicht werde und in Dimensionen reise, in denen es keinen Körper gibt. Amata ist da und sagt: âIch war immer da und ich bleibe. Ich bin ein Teil von dir.â
Lilly wollte nach Hause. Das Gefühl, dass sie hier alles gefunden hatte, was zu finden war, blieb und hatte sich verstärkt. Sie rief die Agentur an, bei der sie ihren Flug gebucht hatte. âNein, nach Wien können Sie nicht fliegen, da haben wir kein Kontingent mehr. Aber wenn Sie wollen, können wir versuchen, Sie nach München mitzunehmen.â
Lillys Herz machte einen Riesensprung. Oskar! Sie könnte ihn und Niklas am See treffen, falls sie schon von Kiel zurück waren. Letizia war sofort am Apparat, als sie sie vom Hotel aus anrief. Oskar ist noch nicht zurück. Aber er wird am Mittwochvormittag kommen.
âWenn wir uns verabschieden, wissen wir nicht, ob wir uns jemals wiedersehen werdenâ, dachte Lilly, als sie die Nummer von Rita wählte. Morgen war Dienstag und sie war mit ihrer neuen Freundin verabredet gewesen. Sie dachte einen Augenblick an Lilly, die dreibeinige Ziege. Sie hatte Rita Geld für einen groÃen Sack Futter zurückgelassen, als ob ein Teil von ihr schon gewusst hätte, dass sie nicht mehr zurückkommen würde. Sie packte den Tee, den sie gekauft hatte, und die Muscheln, die sie für den Platz der Vagina gesammelt hatte, in einen Sack. Sie würde Tjalle bitten, ihn bei ihrem nächsten Besuch im Wüstencamp mitzunehmen.
14. Februar 1989
In der Nacht kommen die Zweifel. Sie rollen mit den Wellen des Meeres durch meinen Körper und
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