Lillys Weg
nicht.â Sie lacht, als sie mein bestürztes Gesicht sieht: âDas ist nur dann schwierig, wenn wir erwarten, dass unser Glück von auÃen kommt. Wenn du mit deinem inneren Reichtum lebst, wenn du in deinem Inneren ein Zuhause hast, dann kannst du überall glücklich sein. Ich habe eines gelernt: Wir müssen uns nicht umdrehen, in die Vergangenheit schauen und Dinge hinterfragen, die längst geschehen sind. Viele Menschen glauben, sie müssen tief graben und alles verstehen. Es ist genauso gut, wenn du zu einem Baum gehst, ihn um Erlaubnis fragst und ihm alles übergibst. Bäume sind wunderbare Heiler! Doch eines ist noch wichtig: Sprich nie mehr davon. Never!â Sie sagt es laut und begleitet das Wort, das auf Englisch für mich viel entschlossener klingt, mit einer abschlieÃenden Geste. âJe öfter du deine Opfergeschichte erzählst, desto länger bleibt sie in dir. Ich habe meinen Mann, mit dem ich sehr glücklich und sehr unglücklich war, erst verlassen, als ich ihn wirklich ohne Bedingung lieben konnte. Ohne etwas zu fordern. Und wenn ich jetzt an ihn denke, geht mir das Herz auf. Dann flieÃt diese freigesetzte Liebe überall hin.â
Ich denke an die Zeit, als meine Liebe zu Oskar voller Groll und Forderungen an ihn war, und frage mich, wie viele Jahre der Weisheit notwendig sind, um dahin zu gelangen, wo diese weise Frau jetzt steht. Tjalle schenkt Wein nach, holt Brot, Käse und Nüsse. Ohne Worte ist klar, dass das Restaurant am Meer, in dem es gute Shrimps gibt und das sie mir zeigen wollte, zu der Welt, die wir gerade betreten, nicht passt. Sie zündet sich eine neue Zigarette an und entschuldigt sich dafür: âEs gibt Abende, da will ich reden, rauchen und trinken. Und wenn die Gesellschaft passt, ist das wunderbar. Ich bin schon lange nicht mehr an Small Talk interessiert und ich bin gern mit mir allein. Doch manchmalâ, sie öffnet beide Hände nach oben, âgibt es Verbindungen mit Menschen, die gefügt werden. Ich rede nicht mit jeder verirrten Touristin, die hier herumläuft. Es sind so viele â¦â Tjalle schweigt eine Weile und fragt mich dann: âUnd was ist deine Geschichte?â
âIch mag sie jetzt nicht erzählenâ, sage ich. âIch möchte, dass du weiter erzählst.â Sie schaut mich sehr direkt an, mit Augen, die vieles sehen, was nicht gesagt werden muss. âWeiÃt du, wir haben immer eine Wahl. Wir können täglich neu beginnen. Ich habe einmal bei einem alten Schamanen in Spanien gelernt. Er arbeitete mit einem Mann, der zerstört zu ihm kam, weil seine Frau ihn verlassen hatte. Er sagte zu ihm: âZieh deine Kleider aus.â Und als er nackt vor ihm stand: âDu bist nicht der, der du glaubst zu sein. Das ist nicht deine Wahrheit. Du bist nicht diese arme, getretene Kreatur. Du bist ein starker Eroberer, der sich aufmacht, fremde Länder zu erforschen. Erfinde deine Geschichte neu und bleib nicht an der alten hängen. Zieh neue Kleider an und gehe hinaus in die Welt.ââ
âWas bist du von Beruf, Tjalle?â, frage ich sie. âIch war Therapeutin. Aber ich mag diesen Begriff nicht mehr. Er trägt eine starke Hierarchie in sich. Ich würde heute sagen, wenn ich etwas bin, dann so etwas wie âFacilitatorâ.â Sie lacht und spricht auf Deutsch weiter: âErmöglicherin, weil jeder Mensch genau weiÃ, was er wirklich braucht. Und das tue ich mit Rebirthing und Reinkarnationssitzungen.â
Hier ist es wieder, dieses Reizwort, mit dem Ralf mich seit Jahren beschäftigt.
âIch möchte gerne eine Sitzungâ, sage ich. âIch möchte wissen, warum ich mich schon mein ganzes Leben lang nicht vollständig fühle.â Mein Wunsch überrascht mich und gleichzeitig spüre ich eine innere Zustimmung zu diesem Satz. Tjalle lächelt mich an und nickt: âJa, das ist deine Frage.â
Am nächsten Morgen steht Tjalle schon in der offenen Tür ihres Hauses, als ich ankomme. Rund um sich ein Rudel schmutziger, kleiner Kinder, die um die Bonbons kämpfen, die sie ihnen aus einem Korb anbietet. Wir gehen ins Haus, und bevor wir starten, sagt sie: âEs ist mir wichtig, dass du diese Sitzung bezahlst, damit unsere Freundschaft davon nicht berührt wird.â Es erleichtert mich.
Mein Bewusstsein erweitert sich. Es geschieht durch gezieltes Atmen und durch ihre Stimme, die mich in einen
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