Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lillys Weg

Lillys Weg

Titel: Lillys Weg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Renate E. Daimler
Vom Netzwerk:
ihr Mann, der auf sie wartete, angezündet hatte. Das war die Entscheidung.
    Das Hotel empfing sie mit seiner behaglichen, bayerischen Gemütlichkeit. Die Suppe, die Beerengrütze und das Glas Wein, das sie dazu trank, kosteten doppelt so viel wie das Gemüse mit Shrimps im Ofen gebacken und der Beduinentee in ihrem Lieblingslokal in Dahab. Es spielte keine Rolle. Lilly war einfach nur erleichtert, dass sie in einem warmen gemütlichen Restaurant an einem weiß gedeckten Tisch saß, und dankte innerlich ihrem Vater für die Möglichkeit, diesen Luxus zu genießen.
    Am Morgen erwachte sie nach einem traumlosen Schlaf in ­einer Welt, die unterschiedlicher nicht hätte sein können. Sie zog die Vorhänge auf, statt Palmen kahle Bäume, anstelle des blauen Meeres lag der stille graue See vor ihr, auf dem kleine Eisschollen trieben. Dann fiel ihr auf, dass sie in Zimmer 21 wohnte. Das Mandala in der Wüste bestand aus 21 Muscheln. Die Welten ­waren verbunden.
    Das Frühstück wurde auf feinem Porzellan serviert, es gab Stoffservietten und Kaffee, der nach guten Bohnen schmeckte. Sie sah einer Frau und einem Mann zu, die schweigend aßen und dabei Zeitung lasen. Sie trugen beide Businesskleidung und hatten ernste Gesichter. Dann kam kurz der Bregenzerwald zu Besuch. Sie wartete, bis ihr niemand zusah, und packte verstohlen ein mit Wurst und Käse dick belegtes Brot in eine Serviette und steckte es ein. Man konnte nie wissen, wann es das nächste Mal etwas zu essen gab …
    Lilly stapfte durch den Schnee. Das Brot beulte beruhigend ihre Manteltasche aus. Sie trug dünne, weiße Müllsäcke über ihren feinen Lederstiefeletten. Für Ägypten hatte ihr Outfit ­gepasst, jetzt war sie froh darüber, dass zu ihren Talenten ­Improvisation gehörte. Das Hotel hatte ihr einen Schirm geliehen, mit dem sie versuchte, sich gegen den Wind zu schützen, der mit Schneeflocken vermischt vom See herwehte. Sie wandte sich nach links und überquerte die „Bannmeile“, wie Oskar es nannte. Im Sommer, wenn der Biergarten mit seinen weißen Sonnenschirmen Sonnenhungrige aus München anlockte, war die ­Gefahr besonders groß, dass jemand sie erkannte. Jetzt war sie allein. Ein paar Hundebesitzer hatten sich schon früher am Tag zu einer Morgenrunde aufgerafft und hinterließen für Lilly Spuren, in denen sie besser gehen konnte. Als sie nach zwanzig Minuten den Uferstreifen erreichte, der ganz nah bei Oskars Versteck lag, läuteten die Kirchenglocken im Ort. Sie nahm es als gutes Zeichen. Ich bin erwünscht, ich werde hier erwartet. Ihr Mann und ihr Sohn hatten den Nachtzug ab Hamburg genommen und würden schon da sein. Das wusste sie von Letizia. Sie hatte ihr nicht gesagt, dass sie kommen würde, weil sie beim Abflug auf der Warteliste stand. Außerdem liebte sie Über­raschungen. Sie freute sich auf den Jubel, die leuchtenden Augen und auf Niklas, der an ihr hinaufspringen würde wie ein übermütiger, junger Hund.
    Das kleine Holzhaus lag so versteckt hinter Bäumen, dass es auch für Lillys Augen erst im letzten Moment sichtbar wurde. Ihr Herz schlug schneller und sie spürte, wie die freudige Erwartung warm durch ihren Körper pulsierte. Nur noch eine Minute, dann würde sie um die Ecke biegen und bei ihrer Familie sein.
    Der Schnee vor der Tür war unberührt. Kein Zeichen von Leben, kein Licht, kein Rauch aus dem Kamin. Vor dem Iglu, das die beiden gebaut hatten, sah sie Spuren. Sie stammten von einem größeren Vogel, wahrscheinlich von einer Krähe. Oskar und Niklas waren nicht da. Sie fühlte nichts, als sie es registrierte. Sie wusste, dass es nur ein Irrtum sein konnte, der sich aufklären würde, und stapfte über die Wiese zu Letizia. Ihr alter Range Rover stand vor der Tür und trug eine dicke Schneehaube. Sie war heute noch nicht in den Ort gefahren, „Alhamdulillah!“ Lilly lächelte, als sie es laut sagte, und dachte an Tjalle, die ihr das Gott sei Dank auf Arabisch beigebracht hatte.
    Sie läutete an der Tür. Nichts rührte sich. Sie ging links am Haus entlang, sah Licht im Badezimmer hinter der Milchglasscheibe und wartete eine Weile in der Kälte. Dann läutete sie wieder. Stille. Sie umrundete das alte Holzhaus und schaute durch die kleinen Fenster ins Wohnzimmer mit dem gemütlichen, blassgrünen Kachelofen. Quer über den Raum waren Schnüre

Weitere Kostenlose Bücher