Lillys Weg
Muscheln ein, die am Weg lagen, und beschloss, sie Rita mitzubringen. Sie liebte das Meer und würde der Wüste einen Gruà überbringen. Irgendwann waren es so viele, dass sie sie mit beiden Händen nicht mehr tragen konnte. Sie zog einen Plastiksack aus dem Wasser, füllte ihre Muscheln hinein und merkte, dass ihre Sammelleidenschaft inzwischen zur Sucht geworden war. Lilly hatte aus einem kleinen Spiel eine neue Aufgabe, eine Pflicht gemacht, der sie nun nachkommen musste. Als sie nach einer Stunde zu einer kleinen Hotelanlage kam, trank sie einen frisch gepressten Zitronensaft und lieà sich von einem Ehepaar, das am Strand lag, ihr Zimmer zeigen. Man konnte nie wissen, vielleicht wollte sie nächstes Jahr hierherkommen. Als sie mit ihrem schweren Sack den Rückweg antrat, sagte der Mann: âSind Sie sicher, dass Sie das alles schleppen wollen?â Und Lilly antwortete: âIch bin eine gute Lastenträgerin, es macht mir nichts aus.â Der Satz kam ihr absurd vor, als sie erschöpft auf einem groÃen Stein am Ufer Rast machte. Sie lief getrieben durch die Gegend, besichtigte Hotelzimmer, obwohl sie keines brauchte, und schleppte Lasten. Sie sah unschlüssig auf den Sack voller Muscheln. Sollte sie ihn einfach zurücklassen? Die Arbeit von fast zwei Stunden wäre umsonst gewesen. Das Muschelbild, das sie vor der Steinvagina in der Schlucht schon vor sich sah, würde keine Realität werden. Lilly wusste, dass sie keine Wahl hatte. Noch nicht. Sie hatte ihr ganzes Leben lang trainiert, gut zu funktionieren, und dazu gehörte, dass man Dinge, die man anfing, auch beendete. Sie nahm ihren schweren Sack wieder auf und ging weiter. Es kam ihr vor wie eine Metapher für ihr Leben zu Hause.
Erschöpft, mit schmerzenden schweren Armen, kam sie im Hotel an und dachte an Kaiserin Elisabeth. Sie war immer schon fasziniert gewesen von dieser neurotischen Frau, die sich durch exzessive Bewegung von ihrem Innersten fernhielt. Hatte sie heute versucht, sich selber zu entkommen? Lilly war verwirrt. Die alte Lilly wollte sie nicht mehr sein und eine neue gab es noch nicht.
13. Februar 1989
Heute ist Sonntag. Ruhetag. Es ist absurd, dass es für mich auch im Urlaub einen Unterschied macht. In meiner Kindheit war es der einzige Tag in der Woche, an dem es keine Pflichten gab. Ich muss kein schlechtes Gewissen haben, wenn ich einfach nur am Strand liege, ausgestattet mit einem Buch und meiner Sonnencreme. Einer der drei Ahmets, die es im Hotel gibt, wird mir Âeinen frisch gepressten Saft bringen. Seit ich im Wüstencamp die Langsamkeit entdeckt habe, merke ich, dass ich ein Mensch bin, der immer etwas tun muss. Ich kenne das Gefühl nicht, einfach nur so zu sein. AuÃer am Sonntag. Da darf es zumindest in Erwägung gezogen werden, auch wenn in meiner Kindheit dieser Tag den Ausflügen gewidmet war. Wann bin ich jemals ein paar Stunden still gesessen oder gelegen? Nur, wenn ich krank war. Ich mochte es als Kind, krank zu sein. Aber es geschah sehr selten. Dann durfte ich den ganzen Tag im Bett liegen, und Mama brachte mir eine Wurstsemmel mit Essiggurken. Das war sonst streng verpönt.
Welche Vorbilder gab es in meinem Leben für dieses pure Sein? Meine Mutter ist und war immer ständig beschäftigt. Sie setzt sich nur zum Essen und am Abend hin. Und mein Vater lebte nach dem Leitspruch: âWer rastet, der rostet.â Seine Rast fing erst an, als er tot umgefallen war. Und wenn ich als Kind auch nur ansatzweise den Eindruck erweckte, als wollte ich gerade faulenzen, erinnerte er mich an vernachlässigte Pflichten mit dem Satz: âWas du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen.â Ich habe bisher das Stillsein nicht vermisst. Es war in meiner Natur nicht angelegt. Oder ist es in jedem Menschen zu Hause und wird einfach nur durch unsere Erziehung vertrieben?
Ritas Leben ist eine Anhäufung von purem Sein. Sie strahlt es aus, und jede einzelne ihrer Bewegungen ist davon durchdrungen. Sie war, ohne ihre Zeit zu messen, mit mir stundenlang in der Wüste gesessen und hatte sich keine Gedanken gemacht, ob sie etwas versäumte. Als sie die kleine Lilly-Ziege fütterte, war sie genauso im Sein, obwohl das Abendessen wartete.
Ich möchte auch sein. Doch während ich es sage, fällt mir mein kompliziertes Leben ein, und mein Wunsch kommt mir absurd vor. Wo soll diese Qualität ihren Platz haben? Meine Sehnsucht wirft mehr
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