Lillys Weg
verursachen mir Ãbelkeit. Es könnte natürlich auch der Fisch gewesen sein, den ich zum Abschied gegessen habe.
Ich werde, nachdem ich einen einzigen Tag in einem Liegestuhl am Meer verbracht habe, in die klirrende Kälte von Bayern fliegen und hoffen, dass Oskar rechtzeitig aus Kiel zurück ist.
Der Zweifel ist ein hässliches schwarzes Tier mit scharfen Zähnen und nagt an allem, was bis gestern noch schön und kostbar war. Die magischen Stunden mit Tjalle und Rita verwandeln sich zu etwas Fragwürdigem, was kluge Menschen, wenn sie wieder vernünftig werden, als irrationale Handlung verbuchen.
Früher, als ich noch einen unbeschwerten Alltag hatte, in dem hauptsächlich gute Freunde, guter Sex und eine gute Reportage zählten, habe ich wenig von meinen Zweifeln gewusst. Aber sie müssen schon irgendwo in mir gewohnt haben. Wahrscheinlich haben sie sich in dem Raum versteckt, in dem auch die vielen Tränen wohnen.
Ich gehe wieder auf meinem Schwebebalken hin und her. Manchmal wundert es mich, dass genau dieses Bild vor mir auftaucht. Ich habe in der Schule den Schwebebalken immer gehasst. Dieses schmale Stück Holz, auf dem ich balancieren musste. Und weil ich einen Kopf gröÃer als andere Kinder war, erschien mir der Abstand zum Boden bedrohlich. Aber er ist wieder da und ich nehme die Herausforderung an: Auf der einen Seite des Schwebebalkens ist die Welt zu Hause, die ich gut kenne. Es ist die Welt, in der mein Vater wohnte, als er noch lebte. Realistisch, sachlich, berechenbar. Auf der anderen Seite gibt es die Heilerinnen, die aus der Tradition meiner weiblichen Linie kommen, und die unsichtbaren Wesen, die manchmal auch durch Menschen zu mir sprechen. Zum Beispiel durch Tjalle und Rita.
Das Meer hat sich beruhigt, es rollt jetzt mit seinen sanften Wellen durch meinen Körper und nimmt die Ãbelkeit mit. Ein vertrauter Satz taucht auf: âUnd wo immer du hingehst, gibt es Schwarz und WeiÃ. Und welche Seite du wählst, bestimmst du selbst. Und wenn du die weiÃe Seite wählst, dann werden dich die Schatten verfolgen. Aber nur ein wenig.â
Es ist ein strahlender Morgen in Dahab. Ich packe meinen Koffer und schlage, bevor ich das Buch verstaue, noch einmal âDie vier buddhistischen Königswegeâ mit dem Titel âDen Alltag erleuchtenâ auf. Sakyong Mipham soll mir seine Weisheit mit auf die Reise geben: âDer Pfad des Tigers hat uns gezeigt, dass Unterscheidungsvermögen und Einsatzfreude Frieden hervorbringen. Durch unsere Disziplin brauchen wir die niedrigen ÂBereiche der Negativität nicht mehr zu betreten. Wir sind hochherzig und fröhlich in allem, was wir tun, und unsere Handlungen sind hervorragend ausgeführt.â
Es trifft mich wie ein elektrischer Schlag. Ich habe eine ÂHandlung nicht hervorragend ausgeführt! Ich werfe meine UnterÂwäsche und mein Waschzeug in den Koffer und stürze zur RÂezeption hinunter. âBitte, rufen Sie Aid an, ich brauche sofort ein Taxi.â Aid kommt nach ein paar Minuten. Er ist der junge Beduine, den Rita mir bei meinem zweiten Besuch geschickt
hat.
Auf dem Weg ins Wüstencamp sagt eine innere Stimme zu mir: âDu musst deine Schuhe hierlassen, damit ich sicher sein kann, dass wir wiederkommen.â Ich sehe auf meine geflochtenen, leichten Treter hinunter. Ich liebe sie und sie waren sehr teuer. Ich gebe keinen Kommentar ab.
Rita erwartet mich mit Lilly im Arm: âHeute Morgen bin ich erwacht und wusste, dass du wiederkommen wirst.â Sie legt mir die kleine Ziege in den Arm, sie ist noch nicht gröÃer als eine Katze. Ich streichle Lilly, ihr Fell ist weich und schwarz-weià gefleckt. Ich weiÃ, dass ich ihre Patin bin. Wir müssen nicht darüber reden. Sie sieht mich aus ihren sanften Augen vertrauensvoll an. Auch ihretwegen musste ich zurückkommen. Ich kann nicht ohne Abschied gehen.
Eine kostbare Stunde kann ich mit Rita im Wadi verbringen. âIch habe dir Muscheln mitgebracht, ich möchte das Meer mit der Wüste verbinden.â Sie nickt und antwortet: âWir beten täglich um Wasser, es ist in der Wüste heilig.â
Ich bin zurück an meinem Vaginaplatz. Rita setzt sich auf Âeinen Stein, raucht eine selbst gedrehte Zigarette und beobachtet mich. Ich lege die Muscheln in den Sand und versuche das Bild zu finden, das in meinem Inneren schon existiert. Es fehlt etwas. Rita lächelt mich wissend an,
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