Lillys Weg
Hochzeit ihrer Eltern keinen Kontakt mehr gegeben. Einmal hatte sie als Kind gehört, wie Mémé zu ihrem Vater gesagt hatte: âSie stinken nach Stall, was soll ich mit ihnen?â Lilly hatte das nicht verstanden, sie liebte den Stallgeruch.
Ihr GroÃvater war ein schweigsamer Mann gewesen, der am liebsten mit seiner Pfeife auf der Hausbank gesessen war, und wenn Lilly ihn etwas gefragt hatte, erst nach einem längeren Schweigen bedächtig geantwortet hatte. Von ihm hatte sie gelernt, wie man ein mutterloses Kitz mit einer Milchflasche füttert und wie man einem verletzten Vogel das Beinchen schient.
Am Abend setzte sich Lilly, müde von ihrem langen Spaziergang an alle Lieblingsplätze ihrer Kindheit mitten unter die Touristen auf den Place Bellecour, aà einen Salade niçoise und trank ein Glas französischen Landwein. Sie fühlte sich nicht einsam, auch wenn sie allein unterwegs war und konnte überall den lebendigen Atem dieser Stadt spüren.
Lilly schwelgte die beiden Tage während ihres Traumaseminars in einem Sprachbad und genoss es, dass sie den ganzen Tag Französisch hörte und Französisch sprach. Sie lernte, dass viele Traumata von selbst heilten und dass aber acht bis fünfzehn Prozent sich einfach nur abkapselten und ungelöst im Verborgenen darauf warteten, geheilt zu werden. Sie erfuhr, dass auch noch Jahrzehnte später traumatische Ereignisse plötzlich mit groÃer Vehemenz an die Oberfläche kommen konnten, häufig ausgelöst durch ein Ereignis in der Gegenwart.
Lilly wurde plötzlich bewusst, dass eine ganze Generation von Männern und auch Frauen schwerst traumatisiert war durch die Erlebnisse im Krieg. Sie hatte ihren Vater mehrfach gefragt, wie das damals war, als er als junger Mann in seiner zerlumpten Uniform mit Frostbeulen an den FüÃen aus Russland geflüchtet und zu Fuà von Norddeutschland bis in den Bregenzerwald gegangen war. Er hatte ihr die Zigarettendose aus Blech mit dem Einschussloch gezeigt, die ihm das Leben gerettet hatte, weil sie in seiner Brusttasche gesteckt war. Er war noch immer über seine entfernten Verwandten empört, von denen er, als er im Allgäu halb verhungert an ihre Türe geklopft hatte, mit dem Satz empfangen wurde: âBist du dreckig, zieh dir sofort die Schuhe aus!â
Viele Jahre später, als Lilly einen grausam realistischen Kriegsfilm im Fernsehen gesehen hatte, wurde ihr erst klar, dass all die Toten, die Verletzten, das viele Blut, die Todesangst und die zerbombten Städte zum Alltag ihres Vaters gehört hatten. Lilly kannte zerbombte Städte. Sie war ein Nachkriegskind und hatte es geliebt, in den Ruinen zu spielen. Das war zwar streng verboten, aber Willi war schlieÃlich ihr bester Freund. Mit ihm schlich sie sich davon, und er zeigte ihr die gröÃten Froschteiche in den Trümmern und die schönsten âWohnzimmerâ in den Ruinen, in denen sie dann mit anderen Kindern aus der Nachbarschaft spielten, wenn sie in Wien zu Besuch war.
Am zweiten Tag des Seminars gab es neben dem theoretischen Input auch praktische Aufgaben zu lösen. Sie suchte sich für die Ãbungen zu zweit eine Frau in ihrem Alter aus, die sich als Pauline vorstellte und aus StraÃburg kam. Es ging darum, einander anzuleiten, ein mögliches Trauma gut in einem sicheren Koffer zu verstauen, um es erst dann hervorzuholen, wenn es einen passenden Rahmen zur Bearbeitung gab.
Lilly bat Pauline anzufangen, weil ihr absolut nichts einfiel, womit sie arbeiten konnte.
Als der Schmerz und der Schock kamen, war Lilly völlig unvorbereitet. Pauline, die nicht locker lieÃ, hatte sie gebeten, einen Augenblick in die Stille zu gehen und ihre Augen zu schlieÃen. Vielleicht würde dann doch noch etwas auftauchen, was sich lohnte, in einen sicheren Koffer gepackt zu werden. Es war nicht ein Ereignis, es waren sogar zwei.
Das erste Bild war Lilly vertraut, auch wenn sie es schon wieder erfolgreich verdrängt hatte. Ihr Vater, der sie vor Mutters Bett gezerrt und eine Hure genannt hatte. Das zweite Bild war nicht weniger wuchtig, aber es war so, als ob sie es zum ersten Mal sah und spürte:
Lilly in ihrer ersten Klasse in der Volksschule in Mellau. Ihre Oma hatte ihr eine wunderbare, bemalte Holzschachtel mit Bleistiften und Buntstiften geschenkt. Sie setzte sich erwartungsvoll vor das linierte Heft, das der alte Lehrer ausgeteilt hatte. Sie konnte schon ein
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