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Lillys Weg

Lillys Weg

Titel: Lillys Weg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Renate E. Daimler
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bisschen schreiben, Mémé hatte ihr das Alphabet beigebracht, obwohl Vater dagegen gewesen war. „Sie wird sich in der Schule langweilen, wenn du ihr jetzt schon alles zeigst.“ – „Es ist ja auf Französisch, was spielt das für eine Rolle“, hatte seine Mutter, die sich schon immer wenig darum gekümmert hatte, was ihr Sohn wollte, geantwortet.
    Der Lehrer malte ein großes A und ein großes B auf die Tafel und bat die Kinder, diese Buchstaben so genau wie möglich nachzumalen. Er war mager und verhärmt, und man sah ihm an, dass er schon viel zu viel Kreide eingeatmet hatte.
    Lilly war sofort fertig, und als der Lehrer sah, dass sie ihren Bleistift schon wieder hingelegt hatte, kam er zu ihrem Platz. „Sehr schön, dann mal es noch einmal.“ Lilly freute sich über das Lob und beugte sich eifrig wieder über ihr kleines Holzpult.
    Als er ihr das Heft wegriss, grob den Bleistift aus der linken Hand nahm und sie anschrie: „Nimm sofort die gute Hand!“, wusste Lilly nicht einmal, was er damit meinte. Sie hatte noch nie von einer „guten“ und einer „bösen“ Hand gehört und fing bitterlich an zu weinen. „Du bist ein Stadtfratz, und glaub ja nicht, dass du hier bei uns eine Extrawurst braten kannst“, sagte der Lehrer gehässig und sah verächtlich auf Lillys schönes Kleidchen hinunter. Ihre Mutter hatte es für diesen einen Tag aus der Wienkiste geholt.
    Pauline berührte Lilly, der die Tränen durch ihre geschlossenen Lider flossen, vorsichtig am Knie und sagte sanft: „Leg es in den Koffer, was immer es ist.“
    Lilly hatte schon vergessen, dass sie eigentlich Linkshänderin war und dass sie in der Schule mit einer Weidenrute, die der Lehrer sich täglich an der Bregenzer Ache schnitt, geschlagen wurde, weil sie es nicht schaffte, mit der „guten Hand“ zu schreiben. Ihrer Mutter hatte sie von ihrem Martyrium nichts erzählt. Sie war so traurig, man durfte sie nicht belasten.
    Als Lilly Lyon verließ, nahm sie sich vor, ihrer vernachlässigten Hand wieder einen Platz zu geben. Im Flugzeug bestellte sie ein Glas Champagner und hielt das Glas ganz bewusst mit der linken Hand. Gleichzeitig hatte die Journalistin einen neuen Plan. Sie wollte sich mit den Folgen auseinandersetzen, unter denen umgelernte Linkshänder litten.
    Lilly war gerade erst den dritten Tag wieder in der Redaktion und schrieb an ihrer Geschichte über Traumata, als Paolo anrief: „Ich habe etwas Interessantes für dich, eine Veranstaltung, auf der ein berühmter Hirnforscher einen Vortrag halten wird. Die Gäste sind handverlesen, wenn du Lust hast, kannst du mich gerne begleiten, Kristina interessiert sich dafür nicht.“
    In ihrer Freundschaft war Paolos Frau längst kein Thema mehr. Lilly war froh darüber. Kristina war jemand, mit dem sie sich auch befreunden könnte, und wie immer die beiden ihre Sexualität geregelt hatten, sie war nicht mehr involviert.
    Auch Sybille hatte schon wieder der nächsten Obsession Platz gemacht. Als alles vorbei und ihre Freundin wieder ansprechbar war, hatten sie an einem feuchtfröhlichen Abend ihre Geheimnisse ausgetauscht und festgestellt, dass Paolos erotische Auftritte sich von Frau zu Frau kaum unterschieden. Er hatte sein Repertoire und seine Vorlieben und offenbar wenig Bedarf, sie zu verändern. Das Neue erlebte er ohnehin in der Phase, in der er seine erotischen Abenteurer ermutigte, eigene Inszenierungen zu gestalten.
    Das Schloss Belvedere, ein Barockkleinod mitten in Wien, in dem der Vortrag stattfinden würde, hatte seine Türen in den großen Park geöffnet. Gut gekleidete Menschen standen an runden, weiß gedeckten Stehtischchen, unterhielten sich angeregt und musterten die Neuankömmlinge unauffällig, aber kritisch. Paolo wusste um seine Wirkung und inszenierte seinen Auftritt dementsprechend. „Zieh was Anständiges an, und bitte keine hohen Schuhe“, war seine Regieanweisung am Telefon gewesen. Paolo, der nur ein Meter sechzig groß war, liebte Frauen, die ihn überragten, man könnte fast sagen, dass das sein Markenzeichen war. Aber Lilly, mit ihrem Gardemaß von ein Meter achtzig, sollte den Größenunterschied nicht noch mehr betonen. Sie nahm Paolos Marotten und seine Einmischungen amüsiert zur Kenntnis. Kein Mann hatte sich je das Recht herausnehmen dürfen, sie so

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