Lily und der Major
öffnete das Tor und ging auf
den Eingang zu. Sie war innerlich so angespannt, daß ihr das Atmen schwerfiel.
Eine zierliche grauhaarige Frau
antwortete auf ihr Klopfen. »Ja bitte?«
Lily stellte sich vor. »Ich suche
meine Schwester Caroline«, sagte sie dann höflich.
Die zierliche Frau bekam feuchte
Augen und trat zurück, um Lily in die Halle einzulassen, in der es nach
Lavendel und Zimt roch. »Ach Gott. Sie hätte sich so gefreut, Sie zu sehen!«
Lily schluckte und wünschte
plötzlich, das Hotel nicht ohne Caleb verlassen zu haben. Das Gefühl, daß sie
ihn schon sehr bald brauchen würde, wurde immer stärker. »Wirklich?« entgegnete
sie tonlos.
Die alte Dame tupfte mit einem
spitzenbesetzten Taschentuch über ihre Augen. »Wir fürchten, daß unsere
Caroline nicht mehr lebt. Sie wurde von einem Schuft entführt, der draußen in
den Bergen campierte. Stellen Sie sich vor, er hatte einen betrunkenen Hund!«
Lily tastete nach einem Sessel und
setzte sich. »Caroline tot? Das kann ich nicht glauben.« In den nächsten
Minuten stellte sie der alten Dame ein Dutzend Fragen, aber ihre Antworten
verwirrten Lily nur noch mehr.
»Möchten Sie ihr Foto sehen?«
erkundigte Miss Maitland sich schließlich freundlich.
»O ja, sehr gern.«
Kurz darauf hielt Lily das Bild
eines schönen, dunkelhaarigen Mädchens in der Hand. »Ich hätte sie erkannt«,
flüsterte Lily mit gebrochener Stimme. »Wenn ich ihr begegnet wäre, hätte ich
sie sofort erkannt.«
»Sie können das Foto behalten, wenn
Sie möchten. Meine Schwester und ich haben sehr viele Fotos von Caroline.
Wissen Sie, wir haben sie sehr geliebt, meine Schwester und ich.«
»Vielleicht ist sie doch nicht tot«,
flüsterte Lily hoffnungsvoll, während sie das Foto in ihre Tasche steckte.
»Mein Mann und ich sind auf dem Weg nach Fox Chapel, Pennsylvania. Ich schreibe
Ihnen die Adresse auf, und falls – wenn – Caroline zurückkommt, weiß
sie, wo sie mich erreichen kann.«
Mis Maitland nickte, aber es lag
nicht viel Hoffnung in ihrem Blick. »Sehr gern, meine Liebe.«
»Wie ist Caroline?« fragte Lily
leise.
»Sie war ein hübsches Mädchen und
immer guter Dinge. Sie sang sehr gern – aber ich muß sagen, daß sie auch recht
temperamentvoll war ...«
»Hat sie je von mir oder von Emma
gesprochen?«
»Ständig, Mrs. Halliday. Ihr größter
Traum war, Sie beide zu finden. Sie hat sogar ein Buch über Ihre Erlebnisse
geschrieben – die Fahrt nach Westen in jenem Waisenkinderzug, und so weiter.
Sie hoffte, daß eine von Ihnen das Buch lesen und sich mit ihr in Verbindung
setzen würde. Es wird im kommenden Winter veröffentlicht.«
Lily war den Tränen nahe und sehnte
sich nach Caleb. Nie hatte sie ihn mehr gebraucht als jetzt. »Vielen Dank für
alles, Miss Maitland«, sagte sie, während sie sich erhob und unsicher zur Tür
ging.
»Miss Ethel Maitland«,
erwiderte die alte Dame. »Meine Schwester heißt Phoebe.«
»Sie ... Sie haben Caroline
gemeinsam erzogen?«
Ehtel Maitland nickte. »So ist es –
obwohl einige Leute gern behaupten, Caroline habe uns erzogen.«
Lily lächelte. Caroline war immer
ein kleiner Tyrann gewesen: Lily konnte sich gut vorstellen, wie sie die
gütigen alten Damen herumkommandiert hatte. »Geben Sie ihr bitte meine Adresse,
wenn Sie sie wiedersehen. Und sagen Sie ihr, daß ich sie liebe.«
Miss Maitland nickte, wenn auch
etwas zweifelnd, »das werde ich«, versprach sie.
Caleb saß aufrecht im Bett, als Lily
in ihr Hotelzimmer zurückkehrte. »Nun? Hast du sie gefunden?« fragte er lächelnd,
anstatt ihr wie erwartet Vorwürfe zu machen, weil sie ohne sein Wissen
fortgegangen war.
Lily brach in Tränen aus. »Alle
glauben, sie wäre tot«, schluchzte sie. »Stell dir vor, sie ist von einem Mann
entführt worden, der einen Hund hat, der trinkt!«
Caleb blieb ganz ernst, als er neben
sich auf die Matratze klopfte und freundlich sagte: »Komm her und setz dich zu
mir.«
Lily ging mit dem Handrücken über
ihre Augen und fragte: »Willst du ein Bild von ihr sehen?«
»Natürlich«, antwortete er sofort.
Lily holte das Foto aus ihrer Tasche
und zeigte es ihm. »Ist sie nicht wunderschön?«
»Sie kann nur schön sein, wenn sie
deine Schwester ist«, erwiderte Caleb galant und betrachtete das strahlende,
lebhafte Gesicht auf dem Foto.
»Ich habe unsere Adresse in Fox
Chapel hinterlassen. Ich bin ganz sicher, Caleb, daß sie lebt und bald
zurückkehren wird!«
Er legte das Bild beiseite und
drückte Lilys Hand.
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