Lily und der Major
du deine Zeit«,
antwortete Joss.
Caleb schüttelte den Kopf. »Du bist
noch immer so stur wie ein Ochse und auch ungefähr so intelligent. Wenn du
nicht bereit bist, mir auf halbem Wege entgegenzukommen, dann geh bitte und laß
mich allein. Ich möchte ein paar Minuten mit Mama und Papa verbringen.«
Joss maß ihn mit einem zornigen
Blick. »Ich könnte dich von hier vertreiben, wenn ich wollte«, bemerkte er
kalt.
Caleb lächelte. »Dann solltest du
besser jetzt damit beginnen«, versetzte er. »Denn es wird einige Zeit in
Anspruch nehmen.«
Joss deutete auf die Schlinge um
Calebs Arm. »Du hast nur einen gesunden Arm«, entgegnete er.
»Damit sind wir uns in etwa gleich«,
erwiderte Caleb. Es war ihm bewußt, daß Joss ihn schlagen
wollte, aber irgend etwas schien ihn davon abzuhalten, den Bruder anzugreifen,
den er seit dem Krieg nicht mehr gesehen hatte.
Joss ballte die Faust und wandte
sich ab.
»Richtig so, Johnny Rebell«,
forderte Caleb ihn heraus. »Zieh den Schwanz ein und ergreif die Flucht!«
Mit einem wütenden Ausruf fuhr Joss
herum und stürzte sich mit seinem ganzen Gewicht auf Caleb. Seine mächtige
Faust traf seinen jüngeren Bruder am Kinn. Caleb taumelte zurück und stürzte in
das Gras hinter dem Grabstein seiner Mutter.
Blut tropfte auf sein Kinn, aber er
grinste seinen Bruder an, als er sich aufrappelte. »Ich bin noch da, Joss«,
sagte er spöttisch. »Und ich gehe auch nicht eher fort, bis du dich hingesetzt
und wie ein normaler Mensch mit mir geredet hast.«
Joss keuchte vor Anstrengung,
Schweißperlen glitzerten auf seiner Stirn, und er ballte noch immer die Faust.
Aber Caleb sah, daß Tränen in seinen Augen standen. »Geh zur Hölle«, fluchte er
und ließ Caleb stehen.
Diesmal versuchte Caleb nicht, ihn zurückzurufen.
Im Verlauf der nächsten Woche ging
Joss Caleb aus dem Weg, weigerte sich, im gleichen Raum mit ihm zu sein oder am
selben Tisch mit ihm zu sitzen. Doch Caleb lernte seine Schwester besser
kennen und Joss' Frau, Susannah, und seine Nichten und Neffen. Nachts tröstete
er sich mit Lilys Nähe, ihren zärtlichen Worten und ihrem verführerischen
Körper, und ganz allmählich begann er, sich nach dem Haus am Bach im Staate
Washington zurückzusehnen.
Eines Tages saß er auf der Mauer
hinter dem Obstgarten und starrte auf die sonnenbeschienenen Gräber seiner
Eltern und Großeltern, als er plötzlich eine starke Hand auf seiner Schulter
spürte.
Caleb erschrak und hätte fast das
Gleichgewicht verloren, als er sah, daß es sein Bruder war, der auf der anderen
Seite der hohen Mauer stand.
»Susannah sagt, du würdest nach
Chicago fahren«, bemerkte Joss.
Caleb nickte. Eine leise Hoffnung
regte sich in ihm, daß es vielleicht doch noch zur Versöhnung kommen würde.
»Das stimmt. Wir werden noch etwa eine Woche bleiben – bis ich die verdammte
Schlinge nicht mehr brauche.«
Joss lehnte sich an die Wand und
beugte sich zu Caleb vor. »Weiß du, wie es in dem verfluchten Loch von
Gefangenenlager war?« stieß er rauh hervor.
Caleb schüttelte stumm den Kopf.
»Es gab Ratten, so groß wie
Hauskatzen. Zum Schluß waren wir gezwungen, sie zu essen, um nicht zu
verhungern.«
Caleb schloß entsetzt die Augen. »Es
tut mir trotzdem nicht leid, daß ich dich am Leben gelassen habe«, sagte er
dann leise.
Joss maß ihn mit einem empörten
Blick. »Du würdest mich also noch einmal einer solchen Qual ausliefern?« fragte
er. »Ja, verdammt, das würdest du!«
»Wenn es um dein Leben ginge?
Selbstverständlich. Ich würde es tausendmal von neuem tun.« Er machte eine
Pause und holte tief Atem. »Joss. versetz dich doch einmal in meine Lage! Denk
an jenen Tag zurück. Erinnere dich an die Schreie, das Kanonenfeuer und das
Pfeifen der Kugeln, die dir um den Kopf zischten. Stell dir vor, du wärst
derjenige, der aufrecht vor mir steht, während ich mit zerfetztem Arm vor dir
auf der Erde liege. Ich bitte dich, mich zu erschießen – Teufel, ich flehe dich
an, mir eine Kugel durch den Kopf zu jagen. Was wirst du tun, Joss?«
Es zuckte um Joss' Mund, er
schluckte und zögerte sehr lange, bevor er antwortete. »Ich würde dich
erschießen«, sagte er.
»Du bist ein verdammter Lügner«,
entgegnete Caleb flach. Der Mann, den er in seiner Jugend geliebt und bewundert
hatte, starrte ihn wütend an. »Gottverdammt, Caleb ...«
»Du hättest es nicht übers Herz
gebracht, mich zu erschießen, weil ich dein Bruder bin. Weil du mir das Reiten
und das Schießen beigebracht
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