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Limit

Limit

Titel: Limit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schätzing
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ihren Steintoren und friedvollen Innenhöfen in Shanghais pulsierendem Herzen zu beziehen, und wann immer er Kompromisse eingehen musste, zweifelte er nicht daran, dass es irgendwann doch geschehen würde.
    Eines Tages fragte ihn sein Banker, warum er es nicht endlich tue. Jericho erwiderte, es sei noch nicht so weit, irgendwann halt. Der Banker machte ihn mit seinem Kontostand vertraut und meinte, irgendwann sei heute. Jericho begriff, dass er vor lauter Arbeit gar nicht mitbekommen hatte, welche Möglichkeiten ihm inzwischen offenstanden, verließ die Bank und wankte wie betäubt nach Hause.
    Er hatte nicht gemerkt, dass es so weit war.
    Mit der Erkenntnis kamen die Zweifel. Sie behaupteten, immer schon da gewesen zu sein, nur habe er sich geweigert, sie anzusehen. Sie flüsterten: Was zum Teufel machst du eigentlich hier? Wie bist du überhaupt hierhergekommen?
    Wie konnte dir das passieren?
    Sie suggerierten, es sei alles umsonst gewesen, und dass die schlimmste Lage, in die ein Mensch geraten könne, darin bestehe, sein Ziel erreicht zu haben. Hoffnung blühte im Schutz der Provisorien, oft ein Leben lang. Jetzt plötzlich wurde es verbindlich. Er sollte ein Shanghaier werden, aber hatte er das je gewollt? In einer Stadt leben, in die er niemals gezogen wäre ohne Joanna?
    Solange du auf dem Weg warst, sagten die Zweifel, musstest du dir über das Ziel keine Gedanken machen. Willkommen in der Verbindlichkeit.
    Am Ende – er lebte in einem durchaus repräsentativen Hochhaus im Hinterland des Wirtschaftsviertels Pudong, dessen einziger Makel in der Errichtung weiterer Hochhäuser ringsum bestand, verbunden mit Lärm und einem feinen braunen Staub, der sich in Fensterritzen und Atemwege setzte – bedurfte es eines neuerlichen Rauswurfs durch die Stadtverwaltung, um ihn aus seiner Lethargie zu reißen. Zwei lächelnde Herren statteten ihm einen Besuch ab, ließen sich von ihm Tee servieren und erklärten, das Haus, in dem er wohne, müsse einem ganz und gar großartigen Neubau weichen. Auf Wunsch werde man ihm gerne einen Platz darin frei halten. Für die Dauer des kommenden Jahres allerdings sei ein weiterer Umzug unvermeidlich. Die Stadtverwaltung schätze sich darum überglücklich, Herrn Owen Jericho eine Wohnung nahe Luchao Harbour City bereitstellen zu können, nur knapp sechzig Kilometer außerhalb Shanghais – was bei einer Metropole, die im Zuge ihrer Ausbreitung andere Städte liebevoll umarme, ja nicht wirklich außerhalb sei. Ach ja, und in vier Wochen wolle man anfangen, wenn er also bis dahin – er wisse schon. Es sei ja nicht das erste Mal, und es täte ihnen sehr leid, eigentlich aber auch nicht.
    Jericho hatte die Delegierten angestarrt, während ihn die wunderbare Gewissheit durchströmte, soeben aus einem Koma erwacht zu sein. Die Welt begann wieder zu riechen, zu schmecken, sich anzufühlen. Dankbar hatte er den verdutzten Männern die Hand geschüttelt und versichert, sie hätten ihm einen großen Dienst erwiesen, abgesehen davon könnten sie nach Luchao Harbour City schicken, wen immer sie wollten. Dann hatte er Tu Tian angerufen und unter Einhaltung aller Höflichkeiten gefragt, ob er wohl jemanden kenne, der jemanden kenne, der wisse, ob in einer belebten Ecke Shanghais ein renoviertes oder neu erbautes Shikumen-Haus frei stehe, das kurzfristig zu beziehen sei. Herr Tu, der sich rühmte, Jerichos zufriedenster Klient und außerdem ein guter Freund zu sein, war für derlei Anfragen die erste Adresse. Er leitete einen mittelgroßen Technologiekonzern, stand auf gutem Fuße mit den Stadtgewaltigen und erklärte sich mit Freuden bereit, »mal nachzuhören«.
    Vierzehn Tage später unterschrieb Jericho den Mietvertrag für eine Etage in einem der schönsten Shikumen-Häuser, gelegen in einem der beliebtesten Viertel Shanghais, in Xintiandi, mit der Möglichkeit des sofortigen Bezugs. Natürlich handelte es sich um einen Neubau. Echte Shikumen-Häuser gab es schon lange nicht mehr. Die letzten hatte man kurz nach der Weltausstellung 2010 abgerissen, dennoch konnte Xintiandi als Hochburg der Shikumen-Architektur bezeichnet werden, in ähnlicher Weise, wie auch die Altstadt von Shanghai alles war, nur nicht alt.
    Jericho fragte nicht, wer dafür hatte ausziehen müssen. Er hoffte, dass die Wohnung tatsächlich leer gestanden hatte, setzte seine Unterschrift auf das Dokument und hielt sich nicht weiter mit der Überlegung auf, welchen Gefallen Tu Tian im Gegenzug dafür einfordern würde. Er

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