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Limit

Limit

Titel: Limit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schätzing
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die Hand und geht.
    Das war gestern gewesen.
    Bislang hatte sich der Junge nicht gemeldet, aber Xin machte sich deswegen keine Sorgen. Irgendwann im Laufe des Nachmittags rechnete er mit dem Anruf. Er wandte sich seinem Sushi zu, ausschließlich Thunfisch, Lachs und Makrele, alles von beeindruckender Qualität. Die Küche des japanischen Restaurants im 56. Stockwerk des Jin Mao Towers ließ wenig zu wünschen übrig, sah man von Nachlässigkeiten in der Anordnung der Speisen ab. Das Restaurant gehörte zum Jin Mao Grand Hyatt, das die oberen 53 Stockwerke des einstmals höchsten Gebäudes Chinas belegte. Inzwischen war der Jin Mao Tower alleine in Shanghai dutzendfach überflügelt worden, zuerst 2008 vom benachbarten World Financial Center, auch darin ein Hyatt, doch immer noch haftete dem überalterten Ambiente das Flair des Exorbitanten an. Es spiegelte die Zeit, als China begonnen hatte, zwischen Kommunismus, Konfuzius und Kapital nach einem neuen Selbstverständnis zu suchen, und es in Reminiszenzen an die kaiserliche Vergangenheit ebenso fand wie in der Art-déco-Ästhetik des Kolonialismus. Xin gefiel das, auch wenn er sich eingestehen musste, dass man gegenüber stilvoller logierte. Was ihn hertrieb, war die Vorstellung, sein Dasein einem Konzept unterwerfen zu können, nicht geprägt von Emotionen, sondern dem kalten Einverständnis mit den Prinzipien der Ordnung, letztlich dem geheimen Formelwerk der Perfektion. 1988 war Kenny Xin geboren worden, und der Jin Mao Tower ergab sich der Acht wie der Mensch seinem Genom. Mit 88 Jahren hatte Deng Xiaoping das Design des Gebäudes freigegeben, am 28. August 1998 war die Einweihung erfolgt. 88 Stockwerke schichteten sich übereinander und bildeten eine Konstruktion, deren jedes Segment um ein Achtel schmaler war als die Basis mit ihren 16 Geschossen. 80 Meter maßen die Stahlträger, auf denen der Tower ruhte, in allem ließ sich die Acht erkennen. Bis 2015 hatte das Gebäude über 79 Aufzüge verfügt, ein Makel, dem ein zusätzlicher Personallift schließlich Abhilfe geschaffen hatte.
    Natürlich blieben kleine Unschönheiten in der ansonsten mustergültigen Konzeption zu beklagen. Etwa, dass der Tower bei Sturm oder Erdbeben nur maximal 75 cm hin und her schwang. Xin fragte sich, wie die Konstrukteure einen solchen Fehler in der mathematischen Schönheit hatten übersehen können. Er war kein Architekt. Vielleicht ging es nicht anders, aber was waren fünf Zentimeter vor dem Primat der Perfektion? Gegen die kosmische Ordnung nahm sich selbst der Jin Mao Tower wie ein unaufgeräumtes Kinderzimmer aus.
    Mit einem manikürten Finger schob Xin das Sushi-Tablett ein wenig von sich weg und nach links, dann platzierte er die Flasche Tsingtao Bier und das dazugehörende Glas in gleichem Abstand dahinter. So gefiel es ihm schon besser. Er war weit davon entfernt, obszönen Ordnungsprinzipien zu huldigen wie Menschen, die alles in rechte Winkel legten. Mitunter erblickte er die reinste Ordnung in der Augenscheinlichkeit des Chaos. Was konnte perfekter sein als völlige Homogenität ohne Verklumpungen darin, so wie ein absolut leerer Geist dem kosmischen Ideal und jeder Gedanke einer Verschmutzung gleichkam, es sei denn, man rief ihn bewusst herbei und schickte ihn nach Belieben wieder fort. Den Geist zu kontrollieren hieß, die Welt zu kontrollieren. Xin lächelte, während er weitere Korrekturen vornahm, die kleine Schale für die Sojasauce verrückte, die Vase mit der einzelnen Orchidee um wenige Grad drehte, die Stäbchen auseinanderbrach und parallel vor sich hin legte. War nicht auch Shanghai auf seine Weise ein wunderbares Chaos? Vielmehr eine Ordnung der Willkür, die sich nur dem geschulten Betrachter erschloss, ein geheimer Plan?
    Xin schob einige Reisklümpchen auf dem Holzbrett weiter auseinander, bis ihm auch dieser Anblick zusagte.
    Er begann zu essen.
     

XINTIANDI
     
    Rückblickend erschien Jericho sein Leben in China als wirre Abfolge von Wagnissen und Fluchten, eingekesselt zwischen Schallschutzmauern und Baustellen, in deren Schatten er mit der Emsigkeit grabender Tiere bemüht gewesen war, sich finanziell zu verbessern. Am Ende hatte die Plackerei Wirkung gezeigt. Sein Banker begann nach Kumpel zu klingen. Dossiers über Beteiligungen an Hochseeschiffen, Wasseraufbereitungsanlagen, Einkaufszentren und Wolkenkratzern wurden ihm unterbreitet. Alle Welt schien bemüht, ihn mit den Möglichkeiten des Geldausgebens vertraut zu machen. An die Brust der

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