Limonow (German Edition)
ist es streng verboten, zum Pinkeln einen Schritt auf die Seite zu treten. Nicht ein Vogel ist am Himmel. Man sieht wenige Tote, sie sind bereits fortgeschafft worden, dafür bekommt Eduard genügende zu Gesicht, als man ihn zu einem Besuch ins Leichenschauhaus führt.
Zu Tode gefolterte, bläuliche, verkohlte Kadaver. Aufgeschnittene Kehlen. Der Geruch von sich zersetzenden Leibern. Säcke voller menschlicher Reste, die von Soldaten auf Lastwagen geladen werden. Wer waren diese Menschen? Serben? Kroaten? »Natürlich Serben«, antwortet der Offizier, der ihn herumführt. Die Frage scheint ihn zu schockieren: Kriegsopfer sind für ihn per se Serben und die Henker Kroaten. Doch wahrscheinlich ist diese Behauptung fünfzig Kilometer weiter in der Umgebung einer kroatischen Stadt, die von der serbischen Artillerie (das heißt jener der Volksarmee …) wortwörtlich dem Erdboden gleichgemacht wurde und in der ein Viertel der Bevölkerung tot ist, schwer zu halten. Egal. Eduard ahnt sehr wohl, dass es auf beiden Seiten genauso viele Bauern gibt, die man zu Unrecht von ihrem Grund verjagt hat, genauso viele unschuldige Opfer und genauso viele tapfere Krieger. Er ist nicht der Meinung, dass eine Seite vollkommen im Recht ist und die andere im Unrecht, aber er glaubt auch nicht an Neutralität. Ein Neutraler ist ein Feigling. Ein solcher ist er nicht, und so fühlt er sich vom Schicksal an die Seite der Serben gestellt.
Auf dieser Seite fühlt er sich wohl. Er fühlt sich wohl an den Braseros am Abend, an denen sich schlecht rasierte Männer ihre geschwollenen Hände mit schwarzen Nägeln wärmen, und er fühlt sich nachts in der Baracke wohl, in der ein schwerer Geruch nach Kohleofen, Pflaumenschnaps und Fußschweiß in der Luft hängt. Als Kind hat er von diesen Biwaks und der Brüderlichkeit unter Kriegern geträumt, das Schicksal hatte sie ihm verweigert, und jetzt macht es ihn auf einem Umweg plötzlich zu dem, wofür er geschaffen war. In zwei Stunden im Krieg, meint er, lernt man mehr über das Leben und die Menschen als in vier Jahrzehnten Frieden. Der Krieg ist dreckig, das stimmt, der Krieg ist sinnlos, aber verdammt! Das zivile Leben ist genauso sinnlos, weil es öde und vernünftig ist und die Instinkte in Schach hält. Die Wahrheit, die niemand zu sagen wagt, ist, dass der Krieg eine Lust ist, die größte Lust sogar, sonst würde man ihn sofort beenden. Wer einmal davon gekostet hat, will mehr, das ist wie beim Heroin. Die Rede ist hier natürlich vom echten Krieg, nicht von »chirurgischen Schlägen« und anderen Schweinereien, die für Amerikaner gut sind, die bei anderen Polizei spielen wollen, ohne ihre wertvollen Streiter in »Bodenkämpfen« zu riskieren. Die Lust am Krieg, am wirklichen Krieg, ist dem Menschen so natürlich wie die Lust am Frieden; es ist idiotisch, ihn dessen beschneiden zu wollen, indem man immer wieder tugendhaft behauptet: Frieden ist gut und Krieg ist schlecht. In Wirklichkeit ist es wie Mann und Frau, wie Yin und Yang : Man braucht sie beide.
Die Kriege in Ex-Jugoslawien wurden nicht oder kaum von normalen Armeen geführt, sondern von Milizen; und an dieser Stelle möchte ich zwei Menschen in den Zeugenstand rufen, die die ganze Sache vor Ort verfolgt und Bücher darüber geschrieben haben: Jean Rolin und Jean Hatzfeld. Der erste ist mein Freund, den zweiten kenne ich ein bisschen, und ich bewundere sie beide. Sie sind einander sehr verbunden, und ihre Berichte decken sich. Der von Jean Rolin heißt Campagnes , der von Jean Hatzfeld L’Air de la guerre .
Auf der ersten Seite von Campagnes beschreibt Jean Rolin, ich zitiere: »eine Straßensperre von Milizen, deren Zugehörigkeit nicht leicht zu bestimmen war. Der Krieg stand noch am Anfang, es herrschte schönes Wetter, die Verluste hielten sich auf beiden Seiten in Grenzen, und man entdeckte gerade erst die Lust, Waffen mit sich zu führen und sich ihrer zu bedienen, um die eigenen Regeln durchzusetzen, Zivilisten zu terrorisieren oder Mädchen zu missbrauchen, also gratis all jene Dinge zu genießen, die in Friedenszeiten, wenn man dafür arbeiten muss, langwierig und kostspielig sind«. Zu den Rudeln von jungen Bauern, die sich daran begeisterten, sich zu besaufen und dabei Schüsse abzufeuern, gesellten sich bald alle Arten von Schlachtenbummlern, große und kleine Delinquenten, echte Psychopathen, ausländische Söldner, slawophile Russen, die gekommen waren, um (auf der Seite der Serben) die Orthodoxie zu verteidigen,
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