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Limonow (German Edition)

Limonow (German Edition)

Titel: Limonow (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emmanuel Carrère
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Maskeraden waren, hatte alles, um ihnen ein Eldorado zu sein.
    Nachdem ich zwei Wochen damit verbracht hatte, in diesem Sumpf aus Lügen und gegenseitigen Verleumdungen den Boden unter den Füßen zu verlieren, war ich reif, um den Eindrücken eines alten Rumänen Gehör zu schenken, der dreißig Jahre lang im französischen Exil gelebt hatte und erst kürzlich in sein Heimatland zurückgekehrt war und der mir etwas ganz und gar Unfeinsinniges, aber ebensowenig politisch Korrektes sagte: »Haben Sie ihre Visagen auf der Straße gesehen? Haben Sie sich ihre Visagen angeschaut? Die Ärmlichkeit und der Dreck darin, meinetwegen, aber dieses bockige Misstrauen, diese Gemeinheit und dieser miese Schiss, der in ihren Gesichtern liegt! Mein Volk sah nicht so aus, das kann ich Ihnen versichern. Das ist nicht mehr mein Volk. Ich verstehe das nicht. Wer sind diese Leute? « Und das Zittern in seiner Stimme entsprach exakt dem Entsetzen des Helden in Die Invasion der Körperfresser , dem alten Science-Fiction-Film aus den Fünfzigerjahren, als jener entdeckt, dass die Menschen nach und nach von Außerirdischen ersetzt worden sind und jeder seiner Vertrauten, obwohl äußerlich unverändert, in Wirklichkeit ein bösartiger Mutant ist.
    Gegen Ende meines Aufenthalts riefen der Präsident Iliescu und sein Premierminister Petre Roman die Arbeiterschaft dazu auf, die »Demokratie« (ich setze das Wort in Anführungszeichen, eigentlich wären sie für fast jedes Wort zu gebrauchen) gegen einen neofaschistischen Komplott zu verteidigen, der nicht weniger fingiert war als der von der Securitate begangene Völkermord in Temeswar. Ganz und gar nicht fingiert dagegen war das massive Aufgebot an Bussen und Zügen, die speziell von der Front zur nationalen Rettung gechartert worden waren, um am 14. Juni 1990 zwanzigtausend durch frenetische Stimmungsmache aufgeputschte, mit Eisenstangen bewaffnete Bergarbeiter nach Bukarest zu bringen, die zwei Tage lang die Stadt terrorisierten und zunächst alle zusammenschlugen, die sie der Opposition verdächtigten, und dann, als reiche das nicht und als müsse man zeigen, dass man es ernst meinte, irgendwie blindlings jeden. Ich beendete gerade meine Reportage in den Bergen der Karpaten und kam erst zum Ende des Spektakels nach Bukarest zurück. Die Bergarbeiter, die von Präsident Iliescu beglückwünscht worden waren, begannen gerade wieder abzureisen, dafür strömten von überall Journalisten herbei und drängten ins Hotel Intercontinental; ich verschob meine Rückreise und wartete drei Tage lang, dass etwas passierte, spähte in der Stadt nach den ersten Anzeichen von Gegendemonstrationen, die sich jedoch in Luft auflösten, lauschte den Gerüchten, die im Hotel zusammenliefen, und fragte mich, ob ich lieber abreisen sollte – unter dem Risiko, die Ereignisse noch einmal zu versäumen – oder doch länger bleiben – auf die Gefahr hin, keinen triftigen Grund mehr für eine Abreise zu finden.
    Während dieser drei Tage sprach ich viel mit einem amerikanischen Journalisten, der ziemlich ernsthaft eins aufs Maul bekommen hatte und darüber hinaus meine Leidenschaft für paranoische Science-Fiction-Geschichten teilte, deren großes Vorbild Die Invasion der Körperfresser ist. Wir wetteiferten mit Roman- und Filmtiteln sowie Autorennamen, und als wir bei Philip K. Dick ankamen, stimmten wir überein: Seine Romane, die mit einer erschreckenden Genauigkeit das Auseinanderfallen von Realität und Wahrnehmung zeichnen, waren die einzigen verlässlichen Reiseführer für die rumänische twilight zone .
    Einer dieser Romane, Zehn Jahre nach dem Blitz , beschreibt eine Menschheit, die sich nach einem bakteriologischen Krieg in unterirdische Bunker geflüchtet hat, wo sie seit Jahren eine grauenhafte Existenz fristet. Durch das Fernsehen weiß sie, dass an der Oberfläche weiterhin der Krieg tobt, dass jede Woche Städte zerstört werden und die Atmosphäre noch mehr vergiftet wird. Aber eines Tages kommt ein Gerücht in Umlauf: Der Krieg sei längst vorbei und eine Handvoll Mächtiger, die Herrscher über den Fernsehkanal, organisiere weiter das Simulakrum des Krieges, nur um die zu zahlreiche Bevölkerung unter der Erde zu halten und um ohne sie friedliche Tage unter dem Sternenhimmel zu verbringen. Das Gerücht breitet sich aus – und das Schlimme ist, dass es natürlich stimmt –, und man kann sich vorstellen, welch niederträchtiger und berechtigter Hass die Menschen aus dem Untergrund bewohnt,

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