Limonow (German Edition)
der spürt, wann der richtige Augenblick gekommen ist. Das, was die Griechen kairos nannten. (Dugin hat ihm dieses Wort beigebracht und er liebt es.) Wir sind genau an diesem Punkt. Die mutigsten Männer Russlands haben sich hier versammelt, und sie sind bereit zu kämpfen. Sie haben die Wahl, Genosse Präsident: Wollen Sie der Geschichte die Erinnerung an einen großen Mann oder an einen Feigling hinterlassen?«
Eduard ist zu weit gegangen, Ruzkoi empört sich: »Und Sie, wer sind Sie denn schließlich? Ein Schriftsteller, oder? Ein Intellektueller! Überlassen Sie militärische Entscheidungen gefälligst den Spezialisten!«
Eduard schnürt es die Kehle zu: Er ein Intellektueller? Ruzkoi hat genug von ihm, er komplimentiert ihn hinaus.
Eduard macht am nächsten Tag einen Fehler: Er verlässt das Gebäude. Noch hat man relativ freien Zugang zum Weißen Haus, und er hat vor, sehr bald zurückzukehren, also geht er zu seinen Freunden, um zu duschen und etwas Frisches anzuziehen, und dann zu Dugin, um ihn zu drängen, sich den Patrioten anzuschließen – doch Dugin verfolgt die Sache lieber vom Fernseher aus, und zum ersten Mal hat Eduard ihn im Verdacht, irgendwie kleinmütig zu sein. Als er wieder zum Brennpunkt zurückkommt, hat die Belagerung begonnen. Jelzin hat den Strom und die Telefonleitungen abschneiden und OMON -Truppen aufstellen lassen, und natürlich kommt man nicht mehr durch. Eduard versucht es trotzdem die ganze Nacht lang. Mit seiner Maschinenpistole am Gürtel und seinen Versuchen, sich durch Militärfahrzeuge und Soldatenketten zu schlängeln, nimmt er sich aus wie ein Partisan während der Nazi-Besatzung. Lautsprecher verbreiten unablässig die Propaganda der Regierung und fordern die Aufständischen auf, sich zu ergeben. Von außen sieht man in den Fenstern des Gebäudes Lichtschimmer und gespenstische Schatten: Drinnen leuchtet man sich jetzt mit Kerzen.
Die Belagerung wird zehn Tage dauern, und diese zehn Tage werden zu den grausamsten in Eduards Leben zählen. Er würde zehn Jahre, einen Arm oder was auch immer dafür geben, um nicht die Dummheit begangen zu haben und hinausgegangen und stattdessen jetzt drinnen bei diesen Haudegen zu sein, die, dessen ist er sich sicher, ihre Haut bald so teuer wie möglich verkaufen werden. Was soll er tun? Sich hinter den Polizeisperren die Beine in den Bauch stehen und darauf warten, dass sich zufällig eine Bresche öffnet? Oder nach Hause gehen und Nachrichten schauen? An beiden Orten fühlt er sich unwohl und am falschen Fleck. Das Fernsehen lässt ihn rasen vor Wut. Die Presse unter Jelzin war weiß Gott frei, aber das hier ist der Ausnahmezustand, und da macht man keine Scherze. Vierundzwanzig Stunden lang lösen sich Journalisten und Kommentatoren dabei ab, die »Konstitutionalisten«, wie man die Aufständischen nennt, als Faschisten und Verrückte hinzustellen. Immer wieder zeigt man die Demonstration zur Unterstützung Jelzins auf dem Roten Platz und immer wieder das Konzert zur Unterstützung Jelzins, das der unvermeidliche Rostropowitsch gibt; dagegen bekommt man nichts von dem zu sehen, was im belagerten Weißen Haus vor sich geht. Drinnen gibt keine Kameras, man kann sich nur vorstellen, was dort los ist.
Alle, die drin waren und lebend wieder herauskamen, beschreiben das Gleiche: die Titanic . Kein Licht, kein Telefon, weder Wasser noch Heizung. Man kommt um vor Kälte, stinkt und hat nichts anderes zu essen und zu trinken als die Reserven der Cafeteria, und diese sind bald verbraucht. Man verbrennt die Büromöbel, und rund um die behelfsmäßigen Lagerfeuer versammelt man sich, um orthodoxe Hymnen und Lieder vom Großen Patriotischen Krieg zu singen und sich gegenseitig zum Martyrium anzuhalten. »Man«, das sind Kosaken mit langen Schnauzbärten, alte Stalinisten, junge Neonazis, vorschriftstreue Abgeordnete und Priester mit langen Bärten. Angesichts der ernsten Lage haben die Priester alle Hände voll zu tun: Die Dienststellen der Abgeordneten verwandeln sich in Beichtstühle und Taufkapellen, vor denen man Schlange steht. Das bisschen Wasser, was noch da ist, wird gesegnet. Ikonen und Poster der Heiligen Jungfrau prangen neben Portraits von Lenin und Nikolaus II ., rote Fahnen neben Armbinden mit Hakenkreuz. Da es noch keine Handys gibt, ist man nur noch über das Radiotelefon eines englischen Journalisten mit der Außenwelt verbunden – ein riesiger Koffer, der an die Funkgeräte während des Kriegs erinnert. Gerüchte machen
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