Limonow (German Edition)
zwei Jahre zuvor noch am selben Ort an seiner Seite standen. Es handelt sich um den Präsidenten der Duma, den Tschetschenen Chasbulatow, und den Vizepräsidenten der Republik, den General Ruzkoi, ein Afghanistan- Veterane, der, obwohl er selbst zu den Machthabern gehört, nicht aufhört, die Schuld immer wieder auf »das kleine Arschloch in rosa Bermudas« zu schieben, wie er den Premierminister Gajdar nennt, seit dieser die Ungeschicklichkeit besaß, sich beim Golfspielen in diesem Aufzug fotografieren zu lassen.
Am selben Abend berufen Ruzkoi und Chasbulatow das aufgelöste Parlament zu einer außerordentlichen Versammlung ein, und dieses erklärt erstens seine eigene Auflösung für verfassungswidrig, setzt zweitens Jelzin ab, ernennt drittens Ruzkoi an seiner Stelle zum Präsidenten und besetzt viertens das Weiße Haus mit der Erklärung, dass der Wille des Volks es dorthin berufen habe und es dieses dementsprechend nur gewaltsam verlassen würde. Außer den rebellischen Abgeordneten gibt es im Gebäude noch einen Haufen von Patrioten, die ebenso entschlossen sind, es zu verteidigen, und unter diesen Eduard, der die Nacht aufge regt wie ein Floh damit verbringt, in einer dichten Wolke von Zigarettenqualm von Versammlungsraum zu Versammlungsraum zu springen. Man diskutiert, herrscht sich an, trinkt, verfasst Kommuniqués und stellt die neue Regierung zusammen. Dieses Palavern macht Eduard ungeduldig: Um die Ministerposten untereinander aufzuteilen, wird später noch genug Zeit sein. Wirklich dringlich dagegen erscheint es ihm, die sich ankündigende Belagerung zu organisieren.
Es gelingt ihm, in das Büro in der obersten Etage vorzudringen, in dem sich Ruzkoi verschanzt hat. Soldaten stehen vor seiner Tür Wache, doch nach heftigem Insistieren erhält Eduard eine Audienz. In Tarnuniform und mit fiebrigem Blick empfängt ihn der General. Er weiß nicht genau, wer sein Besucher ist, aber es ist drei Uhr morgens, und der Druck ist so groß, dass er mit jedem sprechen würde. Außerdem nennt Eduard ihn »Genosse Präsident«, das ist er nicht mehr gewohnt, und es gefällt ihm.
Seit Beginn des Abends telefoniert der Genosse Präsident mit sämtlichen Militärbasen Russlands, um die Lage zu sondieren. »Und, sieht es gut aus?«, erkundigt sich Eduard. Der General antwortet mit schiefem Gesicht: » normalno «, ein Wort, dessen sehr breite Bedeutung von »danke, sehr gut« bis »so lala« reicht. Im Grunde geht es darum: Auf welche Seite wird sich im Fall von Gewaltanwendung die Armee schlagen? Und geht man davon aus, dass sie sich wie zwei Jahre zuvor auf der Seite des Gesetzes hält, stellt sich die Frage: Welche ist die Seite des Gesetzes? Wer ist der legitime Präsident? Jelzin oder Ruzkoi? Die Vereinigten Staaten, England, Deutschland und Frankreich haben gerade ihre Unterstützung für Jelzin gegen die neuen Putschisten erklärt, und diese Nachricht scheint den General ins Wanken zu bringen.
Eduard versucht ihn aufzumuntern und führt ins Feld, dass die Haltung der westlichen Länder nicht überrasche. »Die wollen doch nur eins: ein Russland auf den Knien, deshalb werden sie immer Verräter wie Gorbatschow oder Jelzin unterstützen. Aber was hier passiert, ist kein Putsch. Das demokratisch gewählte Parlament lehnt sich gegen die Diktatur auf, und das wird der Westen im Namen seiner eigenen Werte akzeptieren müssen.«
»Das ist wahr«, stimmt der General zu und runzelt dabei die Stirn, als habe er daran noch nicht gedacht und als wolle er sich das Argument merken, um sich seiner bei Gelegenheit in einer Rede zu bedienen.
»Es zählt nicht das, was in den Kanzlerämtern passiert«, fährt Eduard fort und nutzt seinen Vorsprung, »es zählt nicht einmal das, was in den Kasernen passiert. Entscheidend ist, was hier im Weißen Haus vor sich geht. Das letzte Mal hat sich alles hier entschieden, und auch dieses Mal wird es so sein. Jelzin wird nicht weichen, aber wir auch nicht. Also wird man kämpfen müssen. Haben wir Waffen?«
»Ja«, antwortet der General wie hypnotisiert.
»Genug Waffen?«
»Ja, genug.«
»Worauf warten Sie dann noch, verteilen Sie sie!«
»Nicht jetzt«, sagt der General. »Das ist verfrüht.«
Eduard runzelt die Stirn: »Verfrüht? Das haben die Sozialdemokraten 1917 auch gesagt. Die Situation wäre nicht reif für die Revolution, es gäbe keine Arbeiterklasse in Russland und so weiter und so fort … Glücklicherweise war Lenin vom Gegenteil überzeugt. Ein großer Mann ist einer,
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