Limonow (German Edition)
nächste Mal müsse er die Dinge selbst in die Hand nehmen und nicht Schwätzern und Feiglingen von Generälen überlassen, die ihn einen Intellektuellen schimpfen.
Bei Tagesanbruch wagen sich Rabko und er aus dem Park; sie erreichen eine Metrostation und erfahren, dass Panzer das Weiße Haus umzingelt halten. Ein paar Stunden zuvor glaubte man den Sieg noch in Reichweite, jetzt ist klar, dass es aus ist. Während der Erstürmung verdoppelt sich im Inneren die Inbrunst der orthodoxen Litaneien und patriotischen Gesänge. Der General Ruzkoi sagt immer wieder, er werde sich umbringen, wie Hitler in seinem Bunker – tatsächlich ergibt er sich, aber erst am Nachmittag: Bis dahin werden hundertfünfzig Menschen getötet, die noch von dieser Welt wären, hätte er weniger den Maulhelden gespielt. Den ganzen Tag lang wird geschossen, sowohl vor dem Weißen Haus, wo sich Tausende von Schaulustigen eingefunden haben, die die Erstürmung wie eine Sportveranstaltung verfolgen, als auch im Inneren des Gebäudes, wo die OMON -Truppen, sobald sie eindringen, die Belagerten in Gänge, Büros und Toiletten verfolgen. Im günstigsten Fall schlagen sie sie zusammen, im schlimmsten töten sie sie. Man watet in Blut. Unter den Hunderten von Toten und Tausenden von offiziell gezählten Verletzten sind Aufständische, aber auch Fantasten, Passanten, Greise und neugierige Kinder, viele Kinder. Da Eduard und Rabko eine Welle von Festnahmen im nationalistischen Milieu befürchten, beschließen sie, aufs Land zu fahren.
Sie nehmen den Zug in das 300 Kilometer von Moskau entfernte Twer, wo Rabkos Mutter lebt, und verbringen in ihrer kleinen Wohnung verschanzt zwei Wochen damit, Fernsehen zu schauen. Die offizielle Version der Ereignisse, die den Medien während der Krise aufgezwungen worden war, bekommt Risse. Die Demokratie wurde vielleicht gerettet, aber man spricht nur noch in Anführungszeichen von ihr. Man vergleicht das, was sich gerade abgespielt hat, mit der Pariser Kommune, nur dass hier die Faschisten die Rolle der Kommunarden spielen und die Demokraten die der Versailler Nationalversammlung. Keiner weiß mehr, wer die Guten und wer die Bösen sind, wer die Progressiven und wer die Reaktionären. Irgendwann interviewt ein Journalist Andrei Sinjawski, dem wir schon begegnet sind, als er sich in seiner Klause eines intellektuellen Emigranten in Fontenay-aux-Roses von Nataschas Blauem Tuch zu Tränen rühren ließ. Und Sinjawski, dieser epochemachende Dissident und Demokrat aus tiefster Seele, dieser ehrliche und aufrechte Mann ist auch dieses Mal den Tränen nahe, aber aus Wut und Verzweiflung. »Das Furchtbare jetzt ist«, sagt er, »dass die Wahrheit mir aufseiten derer zu stehen scheint, die ich immer als meine Feinde betrachtet habe.«
6
Da die Duma nicht nur aufgelöst, sondern auch in Blut erstickt worden ist, stehen Neuwahlen an, und Eduard beschließt zu kandidieren. Der junge Rabko ist Student der Rechtswissenschaften und hilft ihm, seine Kandidatur im Bezirk Twer registrieren zu lassen. Das ist nicht schwer: Die Jelzin-Jahre sind eine chaotische Zeit, aber auch eine der Freiheit, der nachzutrauern man bald Muße haben wird. Jeder kann für alles kandidieren und jedwede Meinung formulieren. Dugin hat seine Mithilfe zugesichert, aber letztlich verlässt er sein gut geheiztes Büro in Moskau nicht, und so beschränkt sich die Nationalbolschewistische Partei auf dem Land auf Eduard und den treuen Rabko, und sie fahren den ganzen Dezember lang hinterm Steuer einer alten, in Moldawien registrierten Klapperkiste, die ihnen einer ihrer Offiziersfreunde geliehen hat, kreuz und quer durch die Gegend, und als der Offizier sein Hab und Gut wieder abholt, wahllos in Bussen und Zügen – in der dritten Klasse natürlich.
Eduard, der in der Großstadt aufgewachsen ist und seit langem im Ausland lebt, hat es immer bedauert, die tiefe russische Provinz nicht besser zu kennen, das, was man glubinka nennt. Jetzt entdeckt er Rschew, Stariza, Nelidowo und noch eine ganze Reihe anderer kleiner gottverlassener Nester, die von der »Schocktherapie« verwüstet worden sind und sich sonst, wenn man diesen Anstrich von zeitgenössischem Elend abkratzt, seit den deprimierenden Beschreibungen Tschechows kaum verändert haben. Eines dieser Nester kenne ich gut: Kotelnitsch, und ich kann mir problemlos in jedem von ihnen das einzige verlotterte Hotel vorstellen, in dem es kein warmes Wasser gibt, weil der Frost die Rohre hat bersten lassen, die
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