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Limonow (German Edition)

Limonow (German Edition)

Titel: Limonow (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emmanuel Carrère
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klebrigen Kantinen, die kleinen, verkommenen Fabriken, die kleine, kahle Grünanlage auf dem zentralen Platz, die mit einer Lenin-Büste geschmückt ist und wo Rabko in Ermangelung von Geld für Plakate wie ein Marktgaukler Passanten anspricht, um sie zur Kundgebung von Eduard einzuladen. Es gibt 700000 Wähler, die in diesem Bezirk zu gewinnen wären, er fasst sie in Gruppen von fünfzehn oder zwanzig Personen zusammen, vor allem Alte sind dabei, arme, furchtsame Rentner, die Eduard seinen Katechismus eines russischen Nationalisten aufsagen hören, mit dem Kopf nicken und ihn schließlich fragen: »Gut, aber für wen sind Sie? Jelzin oder Schirinowski?«
    Eduard seufzt erschöpft. Für Jelzin nicht, das ist klar. »Haben Sie im Fernsehen den Spot für seine Partei gesehen, die von diesem Backpfeifengesicht Gajdar angeführt wird?« Diesen Spot muss man gesehen haben. Er zeigt eine wohlhabende Familie mit einem Kind und einem Hund in einem vornehmen Vorstadthaus, wie es nirgendwo in Russland und höchstens in amerikanischen Fernsehserien zu finden ist. Die Eltern gehen mit einem breiten Lächeln ins Wahlbüro, um ihre Stimme für Gajdar abzugeben. Als sie herauskommen, schlussfolgert der Knirps mit einem Augenzwinkern: »Schade, dass wir nicht auch wählen können. Oder, Hund?« Diese Propaganda, die sich an eine vollkommen imaginäre Mittelschicht richtet, sei für 99% der Russen eine Beleidigung, meint Eduard. Seine Zuhörer stimmen zu; doch das wird sie nicht davon abhalten, für jene Partei zu stimmen, die an der Macht ist, denn in Russland wählt man – wenn man wählen darf – die Partei, die an der Macht ist: So ist das eben.
    Die spärlich gesäten Rebellen sind das Zielpublikum von Schirinowski. Pawel Pawlikowski, der Regisseur, dem wir bereits in Sarajewo begegnet sind, hat für die BBC einen Dokumentarfilm über dessen Kampagne gedreht. Darin sieht man Schirinowski den Reformverlierern großmäulig versprechen, er würde den Wodka gratis machen, das Großreich zurückerobern, den Serben zu Hilfe eilen, Deutschland, Japan und die USA bombardieren und den Gulag wiederaufmachen, um dorthin die Neuen Russen, die Leute von Memorial und andere Verräter im Sold des CIA zu schicken. Sein Warenangebot ist nicht sehr verschieden von dem Eduards, dem es recht schwerfällt zu erklären, was er überhaupt Zusätzliches zu bieten hat. Wenn er sich als unabhängig bezeichnet, versteht keiner, wovon er spricht.
    Jelzin und Gajdar gewinnen die Wahl, aber Schirinowski erhält immerhin ein Viertel der Stimmen. Hätte Eduard sich auf seine Liste gesetzt, wäre er jetzt Abgeordneter. Er hätte es tun können, Schirinowski hätte ihn gern genommen, aber Eduard wollte nicht, und zwar aus dem üblichen Grund: Lieber ist er Chef einer Partei mit drei Mitgliedern als jemandem untertan, der Millionen gewinnen kann. Das Wahlergebnis ist so eindeutig, dass er nicht einmal seine offizielle Verkündung abwartet und wütend und beleidigt nach Paris zurückfährt.
    Er hatte Natascha vorwarnen wollen, aber am Telefon antwortete keiner. Früher als geplant zurück klopft er an die Tür, wartet eine Minute – auf seine Weise ist er ein wohlerzogener Junge –, dann schließt er auf. Er findet sie zusammengesunken quer über dem Bett, das von leeren Flaschen und vollen Aschenbechern gesäumt ist. Sie schnarcht laut und ist stockbesoffen. Der Raum muss seit mehreren Tagen nicht mehr gelüftet worden sein, es riecht schlecht. Er stellt seine Tasche ab und beginnt leise aufzuräumen. Natascha macht ein Auge auf, stützt sich auf den Ellenbogen und schaut ihm zu. Mit schwerer Zunge sagt sie: »Du kannst mich später anschnauzen, fick mich erst mal.« Er kriecht zu ihr ins Bett und dringt in sie ein. Wie zwei Schiffbrüchige klammern sie sich aneinander. Danach erzählt sie ihm, sie habe drei Tage lang das Haus nicht verlassen und sich von zwei Unbekannten bumsen lassen. Wäre er ein bisschen früher gekommen, hätte er sie noch angetroffen und sie hätten eine Partie Doppelkopf spielen können. Sie bricht in schrilles Lachen aus. Eduard zieht sich wortlos wieder an, schnappt seine Tasche ohne irgendetwas daraus gewechselt zu haben, schließt geräuschlos die Tür hinter sich und nimmt noch einmal die Metro und dann den RER nach Roissy; dort kauft er sich ein Ticket nach Budapest.
    7
    Von Budapest aus braucht der fast leere Bus eine Nacht, um Belgrad zu erreichen. Er ist zu dieser Zeit die einzige Möglichkeit, um dorthin zu gelangen.

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