Limonow (German Edition)
die Runde: die einen vollkommen verrückt – der amerikanische Kongress habe Clinton festgenommen, weil er mit der Unterstützung Jelzins die Demokratie verraten habe –, die anderen gefährlich plausibel – die Armee werde angreifen. Tatsächlich weiß jeder genau, dass die Armee angreifen und die Sache in einem Blutbad enden wird, es sei denn, man kapituliert, doch das will bei dem steigenden Adrenalinspiegel niemand. Die beiden Leader, Ruzkoi im Drillich und Chasbulatow in schwarzem Hemd und kugelsicherer Weste, beginnen von kollektivem Selbstmord zu reden. Keiner schläft.
Eduard hat das verpasst, und er kommt nicht darüber hinweg. Dafür aber versäumt er nicht die gewaltige Demonstration, die sich am 3. Oktober vor dem Weißen Haus formiert: Mehrere Hundertausende unterstützen die Aufständischen und schwingen rote Fahnen. Eduard ist mit dem jungen Rabko gekommen, dem ukrainischen Studenten, neben Dugin und ihm selbst das dritte Mitglied der Nationalbolschewistischen Partei. Man skandiert: »Sow-jet-u-nion! Sow-jet-u-nion! Jelzin ist ein Faschist!« Doch man ruft auch: »Tod den Juden! Tod den Schwarzärschen!« (das sind die Kaukasier), und das lehnt Eduard ab: Erstens ist es idiotisch, und zweitens ist es genau das, was die westlichen Medien ausschlachten werden. Man provoziert die Leute vom OMON . Werden sie es wagen, auf das russische Volk zu schießen? Sie wagen es. Das erste Blut, die ersten Verletzten. Die Menge knurrt, widersteht, durchbricht eine Sperre. Die OMON -Truppen geraten in Panik, schießen umso hemmungsloser und zerren Demonstranten in ihre LKW s, um auf sie einzudreschen. Ein paar junge Leute erkennen Eduard wieder, umringen ihn und schützen ihn mit ihren Körpern. Von einem Balkon des Weißen Hauses aus hält Ruzkoi mit dem Megafon in der Hand eine Ansprache an die Menge. Wir werden herauskommen! Auf den Kreml zumarschieren! Jelzin festnehmen! Ostankino einnehmen!
Ostankino, das ist der Fernsehturm und also ein Streitobjekt von vitalem Interesse. Wenn die Aufständischen die Kontrolle über die Information übernehmen, kann alles kippen und sich die Belagerung in einen Sturm auf die Bastille verwandeln. Busse und Autos beginnen sich mit bewaffneten Männern zu füllen, die rufen: »Nach Ostankino! Nach Ostankino!« Eduard und der junge Rabko steigen in einen der Busse. Sie fahren durch die menschenleere Stadt: Keiner traut sich mehr auf die Straße. Ein paar wenige Zaungäste zeigen, als sie den Zug vorbeifahren sehen, das V für victory , Sieg. Im Bus gibt Eduard einem irischen Journalisten ein Interview. Noch ist nichts gewonnen, sagt er, aber sein Volk hebt den Kopf.
»Mögen Sie das Wort Bürgerkrieg?«, schrieb er fünfzehn Jahre zuvor in sein Tagebuch eines Versagers . »Ich sehr.«
Als sie das Weiße Haus verließen, waren sie mehrere Hunderte, als sie auf dem Hügel von Ostankino ankommen, sind sie mehrere Tausende. Aber höchstens einer von zehn Männern ist bewaffnet, und die Schwadrone des OMON erwarten sie gut vorbereitet. Sobald die Busse ankommen, eröffnen sie das Feuer und greifen Schlagstöcke schwingend an. Sie rücken vor, knüppeln und schießen gleichzeitig, das Ganze ist ein einziges Massaker. Eduard, der sich glücklicherweise etwas neben ihrer Schneise befindet, wirft sich zu Boden. Ein anderer Körper stürzt auf den seinen. Es ist der irische Journalist. Er rührt sich nicht mehr. Ein dünner Blutstrahl rinnt aus seinem Mund. Eduard tastet ihn ab, untersucht sein glasiges Auge, fühlt ihm den Puls. Er ist tot. Ich bin die letzte Person, die er gefilmt hat, denkt Eduard kurz: Ob irgendjemand diese Kassette eines Tages sehen wird?
Rund um ihn knattern die Maschinenpistolen. Eduard erhebt sich, taumelt beim Einschuss einer Kugel, führt die Hand zu seiner Schulter. Der junge Rabko schafft es, ihn unter die Bäume des Parks in Deckung zu ziehen. Er zerreißt sein Hemd und versorgt Eduards Wunde. Sie blutet heftig, aber sie ist nicht tief, und immerhin ist es die Schulter: Im Film wird der Held immer an der Schulter verletzt. Einige hundert Meter entfernt geht der Kampf weiter, es knattert und heult. Dann wird es ruhig. Die Nacht bricht herein. Die OMON -Kräfte scheuchen Demons tranten auf, die sich in den Park geflüchtet haben, und schnappen sie schonungslos, aber Eduard und Rabko entkommen der Treibjagd. Da die Eingänge überwacht werden, bleiben sie die ganze Nacht in den Büschen versteckt, kommen fast um vor Kälte, und Eduard sagt sich, das
Weitere Kostenlose Bücher