Limonow (German Edition)
geschlossenen Augen im Lotussitz auf seine Bettstelle, aber nachdem er sich daran gewöhnt hat, entdeckt er, dass man überall und ganz diskret meditieren kann, ohne sich in diese etwas demonstrative Haltung bringen zu müssen, die Werbekampagnen für Mineralwässer wie für Versicherungspolicen missbrauchen. In den verschiedenen Schleusenkammern, Metallkäfigen und grünen Minnas, die den Weg eines Häftlings zwischen seiner Zelle und dem Büro des Ermittlungsrichters säumen, und zwischen dem Gebell von Wolfshunden, atemraubenden Gerüchen nach Pisse und den morgendlichen Flüchen des Geleitpersonals lernt Eduard, sich in sich selbst zurückzuziehen und die Zone zu erreichen, wo er ruhig und erwartungslos ist. Und auch da: Wenn es eine Person gibt, von der ich mir nie hätte vorstellen können, dass sie sich dieser Übung hingibt, dann ist es Eduard; aber ich glaube letztlich, er begegnet Vielem mit jener bemerkenswerten inneren Ruhe, die er im Gefängnis bewiesen hat. Ich glaube auch, dass die Begegnung mit Solotarew und die eigenartige Erfahrung im Altaigebirge, bei der er Kenntnis von seinem Tod erlangte, ihn darauf vorbereiteten, dieses Geschenk anzunehmen; und es bräuchte nicht viel und ich würde behaupten, es ist der Trapper gewesen, der es ihm von dort, wo er ist, hat zukommen lassen.
3
Am Abend des 23. Oktober 2002 schauen seine Zellengenossen im Fernsehen einen der von ihnen geliebten Krimis an – trotz der Versuche Eduards, ihnen bewusst zu machen, dass diese für sie eine Beleidigung darstellen, denn die Bullen darin sind Helden und die Delinquenten Monster –, sie wissen genau, dass sie nicht der Realität entsprechen, aber das ist egal, sie werden ihrer nicht müde. Plötzlich wird das Programm unterbrochen, und mit dramatischer Musik untermalt verkündet man, in Moskau habe ein tschetschenisches Terrorkommando sämtliche Schauspieler und Zuschauer eines Theaters als Geiseln genommen. Den anderen ist das völlig egal, die Realität interessiert sie weniger als ihre schwachsinnigen Fiktionen und sie würden den Fernseher am liebsten abschalten, doch Eduard ist dagegen und verfolgt von nun an alle Nachrichtensendungen, um nichts von dem zu verpassen, was in den folgenden siebenundfünfzig Stunden bis zu jenem Gasangriff vor sich geht, der im Morgengrauen des 26. auf die achthundert Personen in dem Theater – Terroristen und Geiseln zusammengenommen – verübt wird.
Die Sache fesselt und beunruhigt Eduard natürlich deswegen so, weil er selbst des Terrorismus angeklagt ist, sein Prozess näherrückt und die Paranoia, die das Land erfasst, seine Angelegenheiten nicht ins Lot bringen wird. Außerdem erscheinen ihm die Schandtaten seiner Gefängnisgenossen angesichts des Bergs von Kadavern, die von den Spezialeinheiten vergast wurden, reichlich blass, und er wird in der Folge immer wieder den Vergleich zwischen Verbrechen ziehen, die in einem Augenblick der Leidenschaft oder der Trunkenheit begangen werden, für die ihre Urheber ihr ganzes Leben lang bezahlen, und den Verbrechen des Staats, für die es Auszeichnungen und Ehrenbekundungen gibt. Aber am meisten verblüfft an den Notizen, die sich Eduard Tag für Tag während der Dubrowka-Tragödie macht, dass seine brühwarm und ausschließlich mit Fernsehinformationen erstellte Analyse exakt mit der einer Frau übereinstimmt, die er nicht kennt und die er, wenn er sie kennte, sicher nicht mögen würde und die das Ganze aus nächster Nähe verfolgen konnte: Anna Politkowskaja. Wie sie befürchtet er von Anfang an ein Blutbad. Als dieses Blutbad stattfindet, errät er aus der Tiefe seiner Zelle in Saratow wie sie, dass die Offiziellen lügen, dass es viel mehr Opfer gibt, als diese zugeben, und dass man nichts versucht hat, um diese Opfer zu retten. Als Putin mit einer männlichen Kinnbewegung verkündet: »Angesichts der terroristischen Bedrohung werden wir uns nichts gefallen lassen, was die Verluste auch sein mögen, das sollte allen klar sein!«, erinnert er sich wie Politkowskaja an das hartnäckige Gerücht, demzufolge die furchtbaren Attentate von 1999 nicht von Tschetschenen begangen worden waren, sondern, unterstützt durch den Präsidenten, vom FSB , und er bezeichnet Putin schließlich genau wie sie als »Faschisten«. Nach meiner Kenntnis ist es das erste Mal, dass er dieses Wort in einem negativen Sinn gebraucht.
Die kleine Nastja kommt für ein Treffen im Besuchszimmer aus Moskau: eine halbe Stunde, getrennt durch eine Scheibe. Sie
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