Limonow (German Edition)
ist jetzt zwanzig und wunderhübsch in ihrer chinesischen Jacke und mit ihrem langen, schwarzen Zopf. Sie erzählt ihm von der Journalismus-Fakultät, in der sie im ersten Jahr eingeschrieben ist, und den kleinen Jobs, mit denen sie ihr Studium finanziert: Eis verkaufen und Hunde in einem Tierheim betreuen. Sie fragt ihn, ob er einverstanden sei, wenn sie sich einen Pitbull zulege. Lachend stimmt er zu: »Besser, du legst dir einen Hund zu als einen Typen.«
Hat er das Recht, so zu antworten? Seine Zweifel daran quälen ihn. Manchmal denkt er, es würde von Weisheit und auch von Erhabenheit zeugen, wenn er ihr sagen könnte: »Warte nicht auf mich. Zieh weiter. Du hast dein Leben zu leben, und das wirst du nicht mit mir tun können. Wir haben einen Altersunterschied von vierzig Jahren, und wer weiß, wie lange es noch dauert, bis ich hier herauskomme. Such dir einen Jungen deines Alters und denk manchmal an mich, ich segne dich.« Doch es gelingt ihm nicht, diese Worte auszusprechen. Nicht nur, weil er an ihr hängt und weil kein Häftling in keinem Gefängnis der Welt die Liebe einer Frau zurückweisen würde, sondern auch und vor allem – das zumindest glaubt er –, weil es sie beleidigen würde. Es hieße, dieses tapfere kleine Mädchen wie eine x-beliebige Person behandeln, die gewöhnlichen Gesetzen folgt, während sie doch mit allen Kräften ein außergewöhnlicher Mensch sein will, eine Heldin, die einzige Frau, die dem Helden, der er ist, würdig ist, die einzige, die trotz der Widrigkeiten durchhalten wird und ihm in dem Moment, da alle anderen ihn betrogen hätten, treu bleiben wird.
»Weißt du«, sagt sie, »die jüngste Frau des Propheten Mohammed spielte noch mit Puppen, als sich die beiden begegneten.«
»Mit Puppen? Tatsächlich? Aber sag mal: Willst du denn lange auf mich warten?«
Sie schaut ihn arglos und überrascht an. Niemand hat ihn je so angeschaut. Niemand hat ihn je so geliebt.
»Ich werde immer auf dich warten.«
Am 31. Januar 2003 fordert der Staatsanwalt bei der Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation, ein gewisser Werbin, dem Eduard eine Ähnlichkeit mit einer senkrecht aufgestellten Kettensäge attestiert, für den Angeklagten Sawenko eine zehnjährige Zuchthausstrafe gemäß Artikel 205, vier Jahre gemäß Artikel 208, acht Jahre gemäß Artikel 222, Absatz 3, und drei Jahre gemäß Artikel 280, macht zusammen fünfundzwanzig Jahre. In seiner großen Milde schlägt er vor, sie auf vierzehn zu verringern. Der Angeklagte Sawenko, der während des gesamten Prozesses auf nicht schuldig plädiert hat, zwingt sich, der Anklage zuzuhören, ohne mit der Wimper zu zucken, aber innerlich bricht er zusammen. Er hat noch nicht einmal zwei Jahre abgesessen; wenn der Richter dem Staatsanwalt folgt, wird er bei seiner Entlassung fünfundsiebzig sein. Da nützen auch Mut und fester Wille nichts, er weiß, wie ein Fünfundsiebzigjähriger aussieht, der nach vierzehn Jahren aus einem russischen Knast entlassen wird: wie ein Zombie.
Drei Tage später trifft ihn ein zweiter Keulenschlag. In den Nachrichten meldet der Sender NTV den Tod von Natascha Medwedewa, der Ex-Frau von Eduard Limonow und Musikerin der alternativen Rockszene, und der Journalist spricht von ihr wie von einer russischen Nico. Es wird nicht deutlich gesagt, dass sie an einer Überdosis gestorben ist, aber alles deutet darauf hin. Vor langer Zeit, als sie noch zusammen lebten, verglichen Eduard und sie einmal die verschiedenen Selbstmordarten und kamen zu dem Schluss, dass Heroin der beste Weg sei: der große ekstatische Flash und dann endlich Frieden. Nach Anna nun Natascha … Ist er es, der sich in Frauen verliebt, die einem tragischen Ende geweiht sind, oder haben sie ein tragisches Ende gefunden, weil sie ihn getroffen, geliebt und verloren haben? Er glaubt, dass Natascha ebenso wie Anna und selbst wie Elena, so sehr sie auch eine italienische Gräfin geworden sein mochte, nie aufgehört hat, ihn zu lieben, und dass sie vielleicht sogar beschloss, dieser Liebe zu entsagen, als sie von der erschreckenden Strafe erfuhr, die gerade für ihn gefordert wurde. Er erinnert sich an ihren Körper, an ihre geöffneten Beine, ihrer beider wilde und fast inzestuöse Art, sich zu lieben. Er glaubt, er werde vielleicht nie wieder lieben, und vollkommen niedergeschmettert wiegt er nun nicht mehr in Lotus-, sondern in Fötusstellung auf seiner Schlafstatt seinen Kummer und singt sehr leise eine kleine Ballade, die er
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