Limonow (German Edition)
vielen von diesen starken, bösen Männern begegnet«, schreibt er, »die getötet haben und nun vom Staat gefoltert werden. Ich bin ihr Bruder, ein kleiner Muschik wie sie, hin- und hergeworfen vom schlechten Wind der Gefängnisse. Ihr habt mich darum gebeten, also schreibe ich für euch, Jungs, für euch Verliesbewohner. Ich verurteile euch nicht. Ich bin einer von euch.«
Es stimmt, er urteilt nicht. Er ist illusionslos und mitleidslos, dafür aufmerksam, neugierig und zu Gefälligkeiten bereit. Auf Augenhöhe. Präsent. Ich denke an meinen Freund, den Richter Étienne Rigal: Das größte Kompliment, was er jemandem machen kann, ist, ihm zu sagen, er wisse, wo er steht. Wenn es eine Person auf der Welt gibt, von der ich nie geträumt hätte, das zu behaupten, dann ist es Limonow, der mir mit seinem ganzen Schneid und seiner Lebensenergie die meiste Zeit neben sich zu stehen scheint. Doch im Gefängnis ist es anders. Dort weiß er, wo er steht.
Es gibt ein anderes Zitat, das ich mag: »Ich gehöre zu den Leuten, die nirgendwo verloren sind. Ich gehe auf die anderen zu, und die anderen gehen auf mich zu. Die Dinge richten sich ganz natürlich aus.«
Einer derjenigen, mit denen er sich am besten versteht, ist ein gewisser Pascha Rybkin. Von seinen dreißig Jahren hat dieser Koloss mit kahlrasiertem Schädel bereits zehn im Gefängnis verbracht und, wie er es hübsch formuliert, »von Verbrechen umgeben gelebt wie Waldbewohner umgeben von Bäumen leben«. Das hindert ihn nicht daran, ein friedlicher, immer gutgelaunter Mensch zu sein, bei dem sich die Züge eines Verrückten, der sich für einen russischen Christus hält, mit denen eines orientalischen Asketen mischen. Sommers wie winters, selbst wenn das Ther mometer in der Zelle unter Null sinkt, läuft er in Shorts und Flip -flops herum, er isst kein Fleisch, trinkt keinen Tee, sondern heißes Wasser, und praktiziert beeindruckende Yoga-Übungen. Es ist nicht sonderlich bekannt, aber enorm viele Leute in Russland treiben Yoga: noch mehr als in Kalifornien, und zwar in allen Milieus. Sehr schnell entdeckt Pascha in »Eduard Wenjaminowitsch« einen Weisen. »Solche Leute wie Sie werden nicht mehr gemacht«, versichert er ihm, »jedenfalls bin ich noch keinem begegnet.« Und so bringt er ihm bei zu meditieren.
Man macht ein Drama daraus, wenn man es nie versucht hat, aber eigentlich ist es äußerst einfach und kann in fünf Minuten erlernt werden: Man setzt sich im Schneidersitz hin, hält sich dabei so aufrecht wie möglich, streckt die Wirbelsäule vom Steißbein bis zum Hinterkopf, schließt die Augen und konzentriert sich auf seine Atmung. Einatmung, Ausatmung. Das ist alles. Das Schwierige ist eben, dass genau das alles ist. Am Anfang ist man übereifrig, man versucht, die Gedanken zu verscheuchen. Dann wird man sich schnell bewusst, dass sie nicht so einfach loszuwerden sind und man ihrem Karussell beim Kreiseln zusehen muss, und allmählich wird man von dem Karussell etwas weniger mitgerissen. Der Atem wird nach und nach langsamer. Die Idee ist, ihn zu beobachten, ohne ihn zu verändern, und auch das ist sehr schwer, fast unmöglich, aber mit der Praxis kommt man ein Stückchen voran, und ein Stückchen ist enorm viel. Man erahnt eine Ruhezone. Wenn man aus irgendeinem Grund nicht ruhig und der Geist rastlos ist, ist das nicht schlimm: Dann beobachtet man seine Unruhe oder seine Langeweile oder seine Lust sich zu bewegen, und indem man sie beobachtet, rückt man sie in die Ferne und ist ein bisschen weniger darin gefangen. Ich selbst praktiziere diese Übung seit Jahren. Ich vermeide es, darüber zu sprechen, denn ich fühle mich mit dieser New Age- oder Zen -Seite und der ganzen Soße nicht recht wohl, aber es ist so wirksam, so wohltuend, dass ich gar nicht verstehen kann, warum nicht jeder diese Übung praktiziert. Kürzlich machte ein Freund in meiner Gegenwart Scherze über David Lynch, den Filmemacher, und sagte, Lynch habe eine totale Meise, weil er nur noch von Meditation spreche und die Regierungen überzeugen wolle, sie ins Grundschulprogramm aufzunehmen. Ich erwiderte nichts, aber es schien mir offensichtlich, dass der mit der Meise mein Freund war und Lynch vollkommen recht hatte.
Von dem Tag an jedenfalls, da der gute und weise Verbrecher Pascha Rybkin Eduard die Sache erklärt und dieser mit dem ihm eigenen Pragmatismus deren Nutzen begreift, baut Eduard in seinen strengen Zeitplan Meditationsphasen ein. Anfangs setzt er sich mit
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