Limonow (German Edition)
Schlägerei in eine wilde Flucht. Kostja und Slawa gelingt es zu entwischen, doch Gorkun und Eduard werden von den Bullen geschnappt. Diese werfen die beiden zu Boden und beginnen ihnen in die Rippen zu treten und methodisch die Hände zu zerquetschen: Das Ziel ist, es ihnen unmöglich zu machen, später damit noch Waffen halten zu können. Eduard sticht mit seinem Messer blindlings zu, zer fetzt die Hose eines Polizisten und verletzt ihn leicht an der Wade . Die anderen Polizisten knüppeln ihn nieder, bis er das Bewusstsein verliert.
Er kommt in einer Zelle wieder zu sich, in dem Mief, den alle Polizeiwachen dieser Welt an sich haben – und er wird noch viele kennenlernen. Der Kommandant der Wache, der ihn vernimmt, ist ein erstaunlich höflicher Mann, aber er verhehlt ihm auch nicht, dass ein bewaffneter Angriff auf einen Polizisten ihm, wenn er volljährig wäre, die Todesstrafe einbringen könnte, und da er noch nicht volljährig ist, mindestens fünf Jahre Strafkolonie. Hätte eine Jugend hinter Gittern Eduard gebrochen, oder wäre sie in seinem Abenteurerleben nur eine weitere Episode gewesen? Jedenfalls entgeht er ihr, denn beim Namen Sawenko hebt der Kommandant die Augenbrauen, fragt nach, ob er etwa der Sohn des Leutnants Sawenko vom NKWD sei, und da der Leutnant Sawenko einer seiner ehemaligen Kameraden ist, regelt er die Angelegenheit, legt den Fall Messerstecherei zu den Akten, und statt fünf Jahren bekommt Eduard lediglich fünfzehn Tage aufgebrummt. Eigentlich müsste er sie damit verbringen, Müll aufzusammeln, doch er hat zu viele Prellungen, um sich bewegen zu können, und so steckt man ihn in eine Zelle mit Gorkun, der angesichts der Inbrunst dieses Jungen Vertrauen fasst, redselig wird und ihn mit zwei Wochen Geschichten aus der Kolyma beschenkt.
Es versteht sich von selbst, dass Gorkun dort wegen eines Gewaltverbrechens inhaftiert war, sonst würde er vor Jungs wie Eduard und seinen Freunden nicht damit prahlen, denn diese haben im Gegensatz zu uns nicht den geringsten Respekt vor politischen Häftlingen. Sie kennen zwar keine, halten sie aber entweder für schulmeisterliche Intellektuelle oder für Schwachköpfe, die sich einbuchten lassen, ohne selber zu wissen warum. Verbrecher dagegen sind Helden, besonders jene Gangsteraristokratie, die man wory w sakone nennt, »Diebe im Gesetz«. In Saltow gibt es keine solchen, dort treiben lediglich Kleinkriminelle ihr Unwesen, selbst Gorkun gibt nicht vor, einer zu sein, aber im Lager hat er welche kennengelernt und wird nicht müde, von ihren Spitzenleistungen zu erzählen, wobei er keinen Unterschied macht zwischen Verbrechen aus Übermut und solchen aus bestialischer Grausamkeit und beide für gleichermaßen bewunderungswürdig befindet. Solange ein Gangster ehrlich ist, das heißt, die Gesetze seines Clans befolgt, und vorausgesetzt, dass er zu töten und zu sterben versteht, sieht Gorkun einzig Courage und innere Größe darin, wenn einer beim Kartenspiel das Leben eines Barackengenossen riskiert und ihn am Ende der Partie absticht wie ein Ferkel oder wenn jemand einen anderen in einen Fluchtversuch hineinzieht mit der Absicht, ihn aufzuessen, sollte mitten in der Taiga die Marschverpflegung ausgehen. Eduard hört Gorkun andächtig zu, bewundert seine Tattoos und lässt sich in ihre Geheimlehren einweihen. Denn russische und insbesondere sibirische Gangster lassen sich nicht irgendwas irgendwo irgendwie eintätowieren. Die Motive und ihre Position bezeichnen genauestens den Rang in der kriminellen Hierarchie, und je höher man auf der Karriereleiter nach oben klettert, desto weitergehend erwirbt man sich das Recht, nach und nach den ganzen Körper zu bedecken, und wehe dem Angeber, der dieses Recht missbraucht: Dem zieht man die Haut ab und macht sich Handschuhe daraus.
In den letzten Tagen seiner Haft macht Eduard eine Feststellung, bei der ihn eine seltsame Freude durchströmt, einer Art Erfülltheit, nach der zu suchen eine Konstante seines Lebens werden wird. Als er ins Gefängnis kam, war er voller Bewunderung für Gorkun und träumte davon, eines Tages so zu werden wie er. Er kommt heraus in der Überzeugung – und das ist es, was ihn so begeistert –, dass Gorkun gar nicht so anbetungswürdig sei und er selbst, Eduard, es sehr viel weiter bringen werde. Mit seinen Lagerjahren und seinen Tattoos vermag Gorkun zwar einen Moment lang bei provinziellen Jugendlichen Eindruck zu schinden, aber wer ein bisschen länger mit ihm zu tun
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