Limonow (German Edition)
hat, bemerkt, dass er von den großen Gangstern als jener kleine Fisch spricht, der er wirklich ist, ohne sich mit ihnen zu messen und sich auch nur einen Augenblick lang vorzustellen, mit ihnen auf einer Stufe stehen zu können – etwa so, wie diese Memme von Wenjamin von seinen Vorgesetzten mit hohem Dienstrang spricht. Es liegt eine Bescheidenheit und Arglosigkeit in dieser Art, an dem Fleck zu bleiben, wo man hingehört, aber Bescheidenheit und Arglosigkeit sind nichts für Eduard, der glaubt, es sei gut, ein Krimineller zu sein, ja sogar, es gebe nichts besseres als das, aber es ginge darum, seine Ziele hoch zu stecken: ein König des Verbrechens zu sein, nicht ein Steigbügelhalter.
5
Als Eduard diese neuen Ansichten Kostja mitteilt, ist dieser ganz Feuer und Flamme, und während Gorkun nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis keinen anderen Ehrgeiz zeigt, als Domino zu spielen, stacheln sich die beiden Jungen gegenseitig dabei an, alles zu verachten, was sie umgibt. Keine Gesellschaftsschicht von Saltow entgeht ihrem Urteil: stumpfsinnige, resignierte Proleten; Randalierer, die dazu bestimmt sind, genau solche Proleten zu werden wie ihre Eltern; Ingenieure oder Offiziere, die auch nur bessere Proleten sind; von Händlern ganz zu schweigen. Kein Zweifel, man muss eben Gangster werden.
Aber wie? Wie findet man eine Gang und verschafft sich Akzeptanz? In der Stadt gibt es natürlich welche, und als sie Mut fassen und die Straßenbahn ins Zentrum nehmen, sind sie voller Euphorie: Charkow, wir kommen! Vor Ort sind sie leider so wenig in ihrem Element wie Typen aus der Pariser Banlieue auf dem Boulevard Saint-Germain. Allerdings hat Eduard schon einmal hier gelebt, zu einer Zeit, die er genau wie seine Mutter zu idealisieren neigt. Er führt Kostja an die vertrauten Orte seiner Kindheit, in die Straße der Roten Armee, in die Swerdlow-Allee; doch dieser Rundgang ist schnell gemacht; danach wissen sie nicht mehr, wo sie hingehen oder an welche Tür sie klopfen sollen, sie trauen sich gerade noch, an einem Kiosk ein Bier zu bestellen, und bitter enttäuscht und unzufrieden mit sich selbst kehren sie in ihre Vorstadtsiedlung zurück, wo das Leben so tragisch fern vom wirklichen Leben ist, aber wo ausgerechnet sie selber wohnen – und das ist kein Glück.
Dann trifft Eduard auf Kadik, er wird der zweite wichtige Freund seiner Jugend, und die Dinge verändern sich. Kadik ist ein Jahr älter als er, lebt allein mit seiner Mutter, und er hat nichts mit den Kleinkriminellen von Saltow zu tun. Er hat Beziehungen ins Stadtzentrum, aber seine Bekannten sind keine Gangster, an die heranzukommen Eduard sich so sehnlich erträumt. Kadiks großer Stolz ist es, einen Saxophonisten zu kennen, der Caravan von Duke Ellington spielt, und über ihn in Kontakt zu den Mitgliedern der Charkower Gruppe »Das blaue Pferd« gekommen zu sein, einer Art Beatniks, welche die Ehre hatten, einen Artikel in der Komsomolskaja Prawda zu bekommen: das Swinging Charkow gewissermaßen. Um dem vorprogrammierten Schicksal eines jungen Saltowers zu entkommen, strebt Kadik danach, Künstler zu werden, und in Ermangelung einer klar ausgeprägten Neigung heißt das, zumindest einer zu sein, den man vielleicht Szene-Typ nennen könnte, einer, der ein bisschen Gitarre spielt, Platten kauft und sammelt, liest und seine gesamte Energie darauf verwendet, immer informiert zu sein, was in der Stadt, in Moskau oder sogar in Amerika passiert.
All das ist für Eduard völlig neu, die Werte und Codes von Kadik stellen die seinen auf den Kopf. Unter seinem Einfluss entdeckt er das Dandytum. Als er klein war, kleidete seine Mutter ihn auf dem Flohmarkt ein: Er trug hübsche Anzüge eines typisch deutschen Kindes und hatte ein zweifelhaftes Vergnügen daran, sich vorzustellen, diese Sachen hätte einmal der Sohn eines Direktors von IG Farben oder Krupp getragen, bevor er 1944 in Berlin getötet wurde. Danach setzte sich der Kleidercode von Saltow durch: Bauarbeiterhosen und dicker Parka mit synthetischem Innenfutter. Da ist die Aufmachung einer Schwuchtel schon von anderer Eigenwilligkeit; und so sind Eduards Freunde mehr als überrascht, als dieser eines Tages unter einer kanariengelben Kapuzenjacke eine Hose aus mauvefarbenem, strukturiertem Samt zur Schau trägt und so dicht beschlagene Treter anhat, dass diese, wenn er mit den Absätzen auf dem Asphalt schlurft, Funken schlagen. Kadik und er sind in Saltow die einzigen, die in der Lage sind, ihren
Weitere Kostenlose Bücher