Linda Lael Miller
hatte?«
Christian
blieb so ruhig, als ob sie nichts gesagt hätte. »Er war ein ehrgeiziger Mann,
dein Vater«, meinte er nachdenklich. »Und seine liebe Gattin Eleanora strebte
auch nach Höherem. Wußtest du eigentlich, daß sie und James ein intimes
Verhältnis hatten?«
Nun vermochte
Melissande ihre Tränen doch nicht mehr zurückzuhalten. Was immer sie auch im
Augenblick von ihrem Vater dachte, was immer sie von seiner treulosen Gattin
hielt, sie hatte John Bradgate geliebt, und es tat ihr weh, zu hören, daß er
betrogen worden war. »Wie kannst du so grausam sein!« fuhr sie Christian an.
Er lachte,
aber es lag keine Fröhlichkeit darin. »Oh, sie hätte meinen Bruder natürlich
nie geheiratet. Er besaß kein Gold, und sie war schließlich nichts anderes als
eine gemeine Dirne. Nein, mein geliebter James wollte dich zu seiner Gräfin,
Melissande.«
»Aber ich
wollte ihn nicht!«
»Dann
stimmt es also?« Wieder dieser täuschend milde Ton.
Melissande
schlang schützend die Arme um ihren Oberkörper, als sie an James' Versuche
dachte, sie zu küssen, nachdem er sie von der Schloßmauer hinabgezogen hatte.
Sie wünschte jetzt – und nicht zum erstenmal –, er hätte sie damals in den Tod
springen lassen. »Ja!« rief sie. »Er bat mich, ihn zu heiraten!«
Christians
Gesicht nahm einen harten Ausdruck an. »Dann hatte ich also recht.«
»Nein! Ich
hatte nichts mit der Verschwörung zu tun, falls es überhaupt eine gegeben hat!«
»Das
erscheint mir ausgeschlossen«, wandte Christian ein, während er sie mit kalten,
abschätzenden Blicken maß. »Und daß du heute alles abstreitest, ist natürlich
verständlich, denn schließlich ist niemand mehr da, der deine Behauptungen
widerlegen könnte.«
»Ich habe
dich mehr geliebt, aLs eine Frau einen Mann je lieben sollte«, erwiderte
Melissande und richtete sich ein wenig gerader auf. Doch ihr Kinn zitterte, und
sie war sicher, daß Tränen in ihren Augen glitzerten. »Aber das war, bevor ich
wußte, wie verbittert und bösartig du im Grunde deines Herzens bist. Mir
scheint, dich zu verlieren war kein Fluch, sondern ein Segen!«
»Beschäftige
dich wieder mit deinen Zeichnungen, wenn du unbedingt in diesem Zimmer bleiben
mußt. Du erschöpfst mich.«
»Ich habe
diese Unterhaltung nicht begonnen, das warst du.« Sie würde sich nicht
unterkriegen lassen. Auf keinen Fall. »Wenn du es nicht erträgst, mich
anzusehen oder meine Stimme zu hören, dann schließ die Augen und stopf dir
etwas in die Ohren.«
Nachdem sie
ihm solcherart Bescheid gegeben hatte, wandte sie sich mit großer Würde ab und
kehrte zu ihrem Zeichentisch zurück. Dann, unter Aufbietung ihrer ganzen
Willenskraft, was ihr hoffentlich nicht anzusehen war, beruhigte sie sich und
widmete ihre ganze Konzentration der Zeichnung vor ihr, die auf ihre
Fertigstellung wartete. Ihre Aufgabe nahm sie bald gefangen, und als sie zu
müde und zu hungrig war, um sie fortzusetzen, hob sie den Kopf und sah, daß
Christian inzwischen wieder eingeschlafen war.
Kurz darauf
kam Schwester Domina mit zwei Tellern Kaninchenragout herein und blieb vor
Christians Bett stehen, um mit einer Art nervöser Faszination den schlafenden
Patienten zu betrachten.
»Er ist ein
großer Mann, nicht wahr?« flüsterte sie Melissande zu.
Melissande
nahm ihren Teller und ging damit zum Tisch, um dort ihr Essen einzunehmen.
»Ja«, bestätigte sie lächelnd. »Und er ist auch sehr behende, ein ausgezeichneter
Reiter und ungemein geschickt im Umgang mit dem Schwert und mit der Lanze.«
Schwester
Domina setzte Christians Teller auf den Nachttisch und trat rasch zurück, als
erwartete sie, daß er ein Schwert unter seiner Decke hervorziehen und es schwingen
würde wie ein Pirat oder wie ein Henker auf dem Galgen.
Belustigt
über die schüchterne Neugier ihrer Mitschwester, verbarg Melissande ein
Lächeln, dann probierte sie den ersten Löffel des schmackhaften Gerichts, das
aus der gut bestückten Küche der Abtei stammte. Bettler und arme Dorfbewohner
versammelten sich in diesem Augenblick am Eingangstor des Klosters, wo sie
eine großzügige Portion des gleichen köstlichen Eintopfs erhalten würden. Der
größte Teil der Einnahmen, die das Kloster durch das Abschreiben und
Illustrieren weltlicher Schriften bezog, wurde auf Mutter Erylis' Anweisung
dazu benutzt, die Armen zu speisen und zu kleiden.
»Christian
war schon immer ein sehr großer Mann. Selbst als Junge überragte er alle
anderen.« Melissande erinnerte sich auch
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