Linda Lael Miller
daß sie Christians Pflege übernehmen
sollte, bis er wieder gesund genug war, um die Abtei zu verlassen. Ein Tisch
und Zeichenutensilien wurden in das Krankenzimmer gebracht, damit sie dort die
Illustration, die sie von Mariä Verkündigung begonnen hatte, fertigstellen
konnte.
»Ich will
dich hier nicht haben«, sagte Christian an jenem sonnigen Morgen, nachdem
Bruder Nodger seine Verbände gewechselt hatte und wieder gegangen war.
Melissande
blickte nicht auf, während sie ihren besten Pinsel in blaue Farbe für das
Gewand der Jungfrau tauchte und sagte: »Das tut mir aber leid für dich.«
Christian
schwieg einen Moment, dann fragte er: »Wer verwaltet James' Besitztümer, seit
er gestorben ist?«
»Ich habe
keine Ahnung«, antwortete Melissande, noch immer ohne aufzuschauen. Das
Sprechen fiel ihr inzwischen etwas leichter, aber ihre Kehle war noch wund,
und selbst die einfachsten Worte zu finden bereitete ihr noch immer große
Schwierigkeiten.
»Wahrscheinlich
dieser Schurke Queech.«
Melissande
unterdrückte ein Schaudern bei der Erinnerung an ihre wenigen Begegnungen mit
James Lithwells Diener und Vertrautem. Sie hatte diesen Mann nie gemocht und
ihm stets mißtraut. »Das ist anzunehmen«, erwiderte sie geistesabwesend. »Aber
wenn du weiter mit mir redest, kann ich mich nicht auf meine Arbeit konzentrieren.«
»Du warst
schon immer sehr geschickt mit Feder und Pinsel.«
Melissande
hob den Kopf und maß Christian mit einem nachdenklichen Blick.
»Keine
Ursache«, sagte er spöttisch, als sie versäumte, ihm für das Kompliment zu
danken. Falls sie sich überhaupt hatte bedanken wollen, was sehr
unwahrscheinlich schien. Das Schweigen dehnte sich zwischen ihnen aus, bis
Melissande es nicht mehr zu ertragen glaubte. »Du warst seine Geliebte«, meinte
Christian schließlich.
Heiße Röte
stieg in Melissandes Wangen. Vorsichtig legte sie den Pinsel nieder, aus Angst,
das kunstvoll gezeichnete Kleid der Jungfrau zu verschmieren. »Ich war keines
anderen Mannes Geliebte und werde es auch niemals sein«, stieß sie zwischen
zusammengebissenen Zähnen hervor.
Christian
seufzte und lehnte sich an seine Kissen. »Das behauptest du«, erwiderte er
schroff. Er schien sich sehr schnell zu erholen, und Melissande hoffte, der Herrgott
möge ihr vergeben, daß sie wünschte, er hätte seine Fähigkeit zu sprechen nicht
ganz so schnell wiedererlangt.
»Das
schwöre ich bei Gott«, sagte sie ruhig.
Christian
wandte den Kopf, um sie anzusehen. »Was hat dich hierhergebracht, in dieses
Kloster?«
»Es gab
keinen anderen Ort, an den ich hätte gehen können.«
»Das ist
eine Lüge! Du hattest das Haus meines Bruders und genügend eigene Besitztümer.«
»Aber hier
wurde ich geliebt«, entgegnete sie traurig. »Und hier wollte man mich – aus
keinem anderen Grund, als daß ich ein Kind Gottes bin.«
»Du hast
doch sicher einiges zu den Schatztruhen dieser Abtei beigetragen.«
»Das habe
ich nicht«, beharrte Melissande, »obwohl ich oft genug das Angebot gemacht
habe. Mutter Erylis hieß mich willkommen, weil sie glaubte, daß ich anderen
etwas Wertvolles zu vermitteln hatte.« Eine überwältigende Trauer erfaßte
Melissande plötzlich. Es war offensichtlich, daß die Äbtissin jegliches
Vertrauen, das sie einst in die Frau
gesetzt hatte, die Schwester Pieta hatte werden wollen, verloren hatte.
Christian
schloß die Augen. Die Wunden in seinem Gesicht sahen schlimmer aus, nicht
besser, obwohl der Heilungsprozeß offenbar schon begonnen hatte. Mit etwas
Glück würde er wieder ganz gesund werden und schon bald die Abtei verlassen
können. »Und was wirst du jetzt tun?« fragte er. »Wohin wirst du gehen?«
Sie legte
den Pinsel nieder und blinzelte, um ihre Tränen zurückzudrängen. »Ich werde
nach London reisen«, sagte sie. »Ich habe verschiedene Dinge mit dem Verwalter
meines Vaters zu besprechen.«
»Das kann
ich mir vorstellen. Du wirst jetzt schöne Kleider kaufen wollen, um dir einen
neuen Ehemann zu suchen. Und wahrscheinlich auch Juwelen, um allen zu beweisen,
was für eine gute Partie du bist. Abgesehen davon selbstverständlich, daß du
verliebte Narren in die Sklaverei verkaufst.«
Melissande
blieb reglos sitzen, bis das Verlangen, aufzuspringen und ihren Zorn und ihre
Wut hinauszuschreien, nachließ. Etwas jedenfalls. »Ich suche keinen Ehemann«,
entgegnete sie dann scharf. »Männer bringen nichts als Ärger und Kummer, soweit
ich das beurteilen kann.«
»Warum
willst du dann nach London
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