Linda Lael Miller
an andere Dinge über Christian. Wie
einsam er gewesen war. Wie oft James ihn gestoßen und geschlagen hatte, bis
sein Gesicht ganz rot und geschwollen gewesen war.
»Du hast
ihn dein ganzes Leben lang gekannt?«
»Sein Vater
und meiner haben oft Geschäfte miteinander getätigt. Christian und sein
älterer Bruder James, der verstorbene Earl von Wellingsley, begleiteten ihren
Vater dann zu unserem Haus in Taftshead, und wir verbrachten die Sommer in dem
Dorf in der Nähe eines ihrer Dörfer.«
Schwester Domina,
die Christian noch immer mißtrauisch betrachtete, hob eine Hand vor den Mund,
um ihre Stimme zu dämpfen, damit sie nicht durch den Raum n seine Ohren drang.
»Er ist sehr jähzornig. Als ich ihm Haferbrei brachte, warf er mir die Schale
nach.«
»Ja,
jähzornig ist er wirklich«, stimmte Melissande freundlich zu, weil sie hoffte,
daß Christian nur so tat, als schliefe er, und jedes Wort verstand. »Und das
ist nur eine seiner vielen Schwächen.«
Schwester
Domina, die schon als dreizehnjähriges Mädchen nach St. Bede's gekommen war,
war ein Unschuldslamm erster Güte. Ihre braunen Augen weiteten sich vor
Erstaunen. »Er hat noch andere?«
»Schreckliche
sogar«, wisperte Melissande, doch ihr Flüstern war laut genug, um im ganzen
Raum gehört zu werden. »Christian ist ein leidenschaftlicher Spieler, und er
trinkt auch gern. Außerdem ...« Sie hielt inne, um ihren Worten mehr Wirkung zu
verleihen – »ist er bekannt dafür, daß er ehrenwerten Männern Hörner aufsetzt.«
Schwester
Domina riß die Augen auf und schlug eine Hand vor ihren Mund, obwohl Melissande
nicht ganz sicher war, ob ihre Freundin überhaupt wußte, was unter > Hörner
aufsetzen < zu verstehen war. Als die Nonne hinauseilte, um nicht in solch
sündiger Gesellschaft zu verweilen, murmelte Melissande ein Gebet, damit der
Himmel ihr verzieh.
Jedes Wort,
das sie gesagt hatte, zumindest in bezug auf Christians > Schwächen < , war
eine glatte Lüge gewesen, obwohl sie nicht den geringsten Zweifel hegte, daß
er, wenn er als freier Mann nach Wellingsley zurückkehrte, keine
Schwierigkeiten haben würde, Frauen zu finden, die ihm schöne Augen machen
würden. Er war jetzt ein Earl und reich an Ländereien und Gütern, wenn auch
nicht an Gold, aber selbst wenn er ein mittelloser Troubadour wäre, würde es
ihm nie an weiblicher Gesellschaft fehlen.
»Hör auf,
mir etwas vorzumachen«, sagte sie von ihrem Platz am Fenster aus, wo die helle
Mittagssonne sie mit ihrem warmen Lichtschein einhüllte. »Ich weiß, daß du nur
so tust, als ob du schläfst.«
Christian
richtete sich auf, griff nach seinem Teller und schnupperte prüfend an dem
Essen. »Du hast mich ganz bewußt herausgefordert«, beschuldigte er Melissande,
bevor er sich mit erstaunlichem Appetit über das Ragout hermachte. »Der Teufel
hat dich nicht nur deiner Skrupel, sondern auch deines Anstands beraubt,
scheint mir.«
»Ich habe
nur gescherzt«, erwiderte Melissande. »Diese arme Frau hat dir geglaubt.«
»Was
kümmert es dich, was sie – oder irgend jemand anderes – denken mag? Das hat
dich auch bisher noch nie gekümmert.«
»Du irrst
dich«, entgegnete er ruhig. »Was du dachtest, war für mich sehr wichtig. Früher
jedenfalls.«
Melissande
stieß einen langen, tiefen Seufzer aus. »Könnten wir nicht einen
Waffenstillstand schließen« fragte sie. »Die Äbtissin hat mir befohlen, deine
Pflege zu übernehmen. Mußt du eine Qual aus jeder Minute machen, die
verstreicht?«
»Du weißt
doch gar nicht, was Qual ist«, entgegnete Christian kalt.
Darauf
hatte sie nichts zu entgegnen. Was er sagte, stimmte; Melissande hatte ein sehr
behütetes Leben geführt. Ihre Mutter war gestorben, als sie noch ein kleines
Kind gewesen war, aber ihr Vater, selbst wenn er sie nicht verhätschelt hatte,
war immer großzügig und gerecht zu ihr gewesen. Obwohl keine Zuneigung zwischen
Melissande und Eleanora, seiner zweiten Frau, bestanden hatte, war es den
beiden Frauen gelungen, einigermaßen höflich miteinander umzugehen. Melissande
hatte eine hervorragende Erziehung durch Privatlehrer genossen und in ihrem
ganzen Leben noch keine Not gekannt.
Bis
Christian Lithwell angeblich auf See gestorben war. Als ihr diese Nachricht
überbracht wurde, war sie fast daran zerbrochen, hatte nur noch sterben und den
nie endenden Schmerz beenden wollen.
»Was hast
du vor, wenn du hier fortgehst?« fragte sie in einem, wie sie hoffte, gleichgültigen
Ton, als sie ihre Mahlzeit beendete und
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