Linda Lael Miller
Distanz zu Christian zu
bewahren, verspürte sie doch eine süße Faszination für ihre Aufgabe, und
während sie immer wieder das Wasser in der Schüssel wechselte, wusch sie
behutsam und zärtlich jeden Zentimeter seines Körpers. Dann, ohne ihn vom Bett
zu bewegen, wechselte sie das verschwitzte Laken und deckte ihn mit einem
frischen zu.
Er sah wieder
wie der alte Christian aus, nur, daß er jetzt viel härter wirkte und natürlich
viel weniger vertrauensselig. Er war erst neunzehn, doch in den zwei Jahren
seit seiner Entführung war er auf viel subtilere Weise älter geworden, als sich
in den schärferen Linien seines Gesichts und dem wachsamen Ausdruck seiner
blauen Augen widerspiegelte.
»Danke«,
sagte er ein wenig heiser.
Melissande
konnte nichts erwidern. Sie nickte nur und begann die Eimer und schmutzigen
Laken einzusammeln. Die Wasserschüssel leerte sie im Hof aus, als sie ihn auf
dem Weg zur Küche überquerte.
Das Bad
kennzeichnete den wahren Beginn von Christians
Heilung, oder zumindest kam es Melissande so vor. Er begann aufzustehen und
herumzuhumpeln, gestützt auf eine Krücke, die er aus einem alten Besenstiel
gefertigt hatte. Er saß für kurze Zeit im Garten, bekleidet mit einer
Mönchskutte und dünnen Ledersandalen, die Bruder Nodger ihm geliehen hatte, und
ließ sich von Melissande Manuskripte aus der umfangreichen Bibliothek des Klosters
bringen. Diese Schriften verschlang er so gierig und so eifrig wie sein Essen
und sein Trinken.
Er und
Melissande redeten, aber nur über oberflächliche, alltägliche Dinge, und
obwohl er ruhig, ja sogar gelassen wirkte, kam sie sich von Tag zu Tag immer
weniger wie eine einstige Postulantin und immer mehr wie eine Dirne vor. Als
die Platzwunden an seinen Lippen heilten und die Schwellungen zurückgingen,
konnte sie nur noch daran denken, ihn zu küssen. Als die Schiene nach einem
Monat von seiner Hand entfernt wurde, sehnte sie sich nach der Berührung dieser
langen, schlanken Finger.
Sie
beendete die Zeichnung von Mariä Verkündigung, um eine neue von Maria Magdalena
zu beginnen, und betete ohne Unterlaß, Gott möge alle sündigen Gedanken aus
ihrem Kopf vertreiben.
Dann,
endlich, brachte ein Kurier eine Botschaft mit dem Siegel der Bradgate Company.
Der Vermögensverwalter bezeichnete Melissandes > Vorschläge < schlechtweg
als undurchführbar und weigerte sich, sie auszuführen.
8. Kapitel
Melissande war im Garten und zupfte gerade das
Unkraut in den Blumenbeeten aus, als ihr die Nachricht überbracht wurde.
Christian, der nach einem Monat fast vollkommen wiederhergestellt war, saß auf
einer Marmorbank und las stirnrunzelnd in einem uralten Gedichtband, der vom Griechischen
ins Französische übersetzt war.
Er schaute
auf, ohne etwas zu bemerken, als Melissande sich aus dem Beet erhob, die Röcke
ihrer Ordenstracht ausschüttelte und die Lederhülse von Schwester Annetta in
Empfang nahm. Melissande verspürte nichts als Vorfreude, als sie das kunstvolle
Wachssiegel erbrach, das die persönlichen Insignien ihres verstorbenen Vaters
trug, und das schwere Pergament herausnahm.
Ihre
freudige Stimmung hielt nicht lange an.
»Wie kann
dieser Mensch es wagen, meine Befehle derart zu mißachten?« rief sie entrüstet
und errötete vor Zorn, als sie das Dokument zum zweitenmal überflog. »Was
glaubt er, wer er ist?«
Christian
lächelte. »Anscheinend befindet der arme Mann sich in dem Glauben, er sei
der Leiter der Bradgate Company.«
»Diese Idee
werde ich ihm unverzüglich austreiben«, sagte Melissande, rollte das Pergament
zusammen und schwenkte es in Christians Richtung wie ein Schwert. »Ich werde
nach London fahren und Henry Renford auf der Stelle aus meinem Dienst
entlassen!«
»Renford
ist nicht dumm«, gab Christian nüchtern zu bedenken und legte das Manuskript
mit den Gedichten vorsichtig auf die Bank, bevor er Melissande seine volle
Aufmerksamkeit zuwandte. »Dein Vater hatte bestimmt eine Verfügung getroffen,
die Renford berechtigt, die Firma zu übernehmen, falls der Familie ein Unglück
zustoßen sollte, wie es dann ja auch geschehen ist.«
Entmutigt
ließ Melissande die Schultern hängen. Christian hatte natürlich recht – wofür
sie ihm alles andere als dankbar war. Obwohl John Bradgate gut für seine
Tochter gesorgt hatte, würde er die Leitung seiner Firma niemals einer jungen
Frau überlassen haben. Dazu war er viel zu sehr auf seinen Vorteil bedacht
gewesen – wie sonst wohl hätte er aus freien Männern Sklaven
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