Linda Lael Miller
sie
die Hände in die Taschen ihres dünnen Umhangs. In der rechten Tasche
ertastete sie die Fotografie, die sie wieder auf grausame Weise an die
Ausweglosigkeit ihrer Situation erinnerte.
Sie fand
den Weg zurück zur Postkutschenstation und kaufte einen Rückfahrschein nach
Cornucopia. Dann, um sich für die anstrengende Fahrt zu wappnen, kaufte sie
einen Apfel und ein Stück Brot von einem Krämer und aß beides auf, obwohl ihr
Hals wie zugeschnürt war und sie nicht den geringsten Appetit verspürte.
Wieder war
sie der einzige Fahrgast in der Kutsche, und wieder war sie dankbar dafür.
Rebecca hätte es jetzt nicht ertragen, mit irgendwelchen Leuten höfliche
Konversation zu machen. Sie war zutiefst erschüttert und verletzt.
Die Fahrt
war anstrengend, in der Kutsche war es bitterkalt, genau wie Rebecca schon
erwartet hatte, und als das holprige Gefährt endlich vor Mary Daniels' Laden
hielt, war die Dunkelheit bereits hereingebrochen.
»Frohe
Weihnachten«, sagte der Kutscher freundlich, als er Rebecca aus dem Wagen half.
Rebeccas
Herz zog sich zusammen; bis zu diesem Augenblick war ihr nicht einmal bewußt
gewesen, daß es Heiligabend war. Sie erwiderte die freundlichen Wünsche des
Mannes und nahm ihre Tasche. Leichter Schnee fiel von einem schwarzen Himmel
und erfüllte die Luft mit seinem sauberen Duft, einem Duft, der Hoffnung und
Erlösung zu versprechen schien.
Mit großen
Schritten näherte sie sich dem Eingang des Gemischtwarenladen, aber als sie ihn
betrat, war Mary nirgendwo zu sehen. Statt dessen stand Lucas an dem großen
Ofen und wärmte seine Hände. Er trug keinen Mantel und keinen Hut und hätte,
wie es so oft bei ihm der Fall war, dringend eine Rasur benötigt.
»Was machst
du hier?« fragte Rebecca, aber nicht ärgerlich, sondern in aufrichtiger
Verwunderung. Sie war so sicher gewesen, daß ihre Liebe vorbei war – bevor sie
überhaupt eine Chance gehabt hatte, zu beginnen –, daß sie angenommen hatte,
Lucas müßte es auch wissen.
»Ich hatte
gehofft, du würdest mit der Abendkutsche kommen«,
sagte er. »Laß uns heimfahren, Becky. Die Mädchen warten schon auf uns.«
»Aber ...«
Er kam zu
ihr und legte einen Finger an ihre Lippen, um sie zum Schweigen zu bringen.
»Was immer es auch ist, es kann warten, bis Annabelle und Susan ihr
Weihnachtsfest gehabt haben«, sagte er. »Und nun laß uns nach Hause fahren,
Mrs. Kiley.«
Die beiden
Pferde und der Wagen standen draußen – Rebecca war bei ihrer Ankunft so
verwirrt gewesen, daß sie sie nicht einmal bemerkt hatte , und Lucas hob sie
auf den hohen Kutschbock, mühelos, als wäre sie ein kleines Kind. Als er die
Laternen angezündet hatte, die zu beiden Seiten des Wagens hingen, setzte er
sich neben Rebecca. Und dann breitete er fürsorglich eine warme Decke über ihren
Beinen aus.
Rebecca
hatte noch nie eine solche Zärtlichkeit erfahren, bevor sie Lucas
kennenlernte, und nun wünschte sie, diese süße Erfahrung nie gemacht zu haben,
nicht einmal für die Dauer einer Stunde. Denn nun würde sie sich für den Rest
ihres Lebens an das ganze Ausmaß ihres Verlustes erinnern müssen, während sie
sich neben irgendeinem Mann abrackerte, den sie nicht liebte, im fernen
Seattle oder gar im bitterkalten Norden.
Eine
einzelne Träne rollte über ihre Wange.
»Wir
sollten dir einen Halswickel anlegen, sobald wir heimkommen«, sagte Lucas, so
selbstverständlich, als stünde überhaupt nichts zwischen ihnen. »Ich mache dir
auch heiße Zitrone mit Honig. Es wäre eine Schande, wenn du morgen bei der
Christmette nicht dein Solo singen könntest.«
Rebecca
preßte beide Hände an den Mund, aber trotz allem entrang sich ihr ein
Schluchzen. Sie würde am nächsten Tag nicht imstande sein, zu singen,
vielleicht für lange, lange Zeit nicht mehr. Denn das würde ihr gebrochenes
Herz nicht zulassen.
Lucas legte
einen Arm um ihre Schultern und zog sie leicht an sich, aber er sagte nichts
mehr, und Rebecca war ihm dafür dankbar. Selbst der Ton seiner Stimme, tief,
sicher und stark, war in diesen Augenblicken eine Qual für sie.
Bald trafen
sie auf der Farm ein, wo alle Fenster hell erleuchtet waren. Lucas fuhr bis vor
die Hintertür, stieg vom Bock und hob Rebecca herunter, wobei er ihr nicht
einmal erlaubte, ihre Tasche selbst zu tragen.
»Geh hinein
und setz dich ans Kaminfeuer«, forderte er sie auf. »Ich werde nach dir sehen,
sobald ich die Pferde und den Wagen in die Scheune gebracht habe.«
Rebecca,
die weder die Kraft noch den
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