Linda Lael Miller
gerichtet.
Als sie den Gemischtwarenladen erreichten, lud er das Gepäck aus, stellte es
auf den hölzernen Bürgersteig und bestieg, nachdem er sich einmal kurz an den
Hut getippt hatte, unverzüglich wieder seinen Wagen, um zur Farm
zurückzukehren.
»Wohin
gehen wir?« fragte Annabelle bestürzt.
»Ihr bleibt
hier in Cornucopia«, antwortete Rebecca. »Ich fahre nach Spokane, weil ich dort
etwas Wichtiges zu erledigen habe.«
»Aber bald
ist Weihnachten!« rief Susan. »Und wenn du es nun verpaßt?«
Rebecca
seufzte, als sie die Tür des Ladens aufstieß. Eine helle kleine Glocke bimmelte
über ihren Köpfen. »Es wäre nicht das erste Mal«, antwortete sie eine Spur
gereizt. Dabei hatte sie sich eigentlich auf das Fest gefreut, vor allem wegen
Lucas. Obwohl es, wie üblich, nur wenige Geschenke geben würde, hatte sie eine
ganz besondere, festliche Mahlzeit kochen und das Wohnzimmer mit Papierengeln
und Popcornschnüren schmücken wollen.
Marys
erfreutes Lächeln verblaßte, als sie die Tasche sah, die Rebecca bei sich trug.
»Was geht hier vor?« fragte sie, und ihr Ton verriet, daß sie sich nicht mit
Ausreden abspeisen lassen würde.
»Ich wäre
dir sehr dankbar, wenn die Mädchen einen Tag oder zwei bei dir verbringen
könnten«, sagte Rebecca und mußte sich sehr zusammennehmen, um nicht in Tränen
auszubrechen. »Ich verspreche dir, daß sie sich nützlich machen werden, wenn
sie nicht in der Schule sind.«
Annabelle
und Susan wechselten einen Blick, aber keins der Mädchen sagte etwas.
»Und wo
wirst du in dieser Zeit sein, wenn ich fragen darf?« wollte Mary wissen,
während sie um die Theke herumging, um vor Rebecca stehenzubleiben. Die
resolute Ladeninhaberin nahm ihre Freundin am Arm und führte sie zwischen
Reihen von Stiefeln, Gartenwerkzeugen und
Mehlfässern
in den hinteren Lagerraum. »Also los, heraus damit, Rebecca Kiley.«
Rebecca
verlor den Kampf gegen die Tränen und begann flüsternd ihre Geschichte zu
erzählen. Sie beschrieb Mary, wie sie Lucas in Chicago kennengelernt hatte, als
sie beide in derselben Pension gewohnt hatten, und gestand ihrer Freundin, daß
sie ihn selbst damals schon geliebt hatte, obwohl es ihr da noch nicht bewußt
gewesen war. Sie gab zu, daß sie nach Cornucopia gekommen war im Glauben, er
sei tot, und sich als seine Frau ausgegeben hatte, damit sie und die beiden
Zwillinge endlich ein anständiges Leben führen konnten.
Mary
lächelte, als Rebecca an die Stelle kam, wo Lucas unerwartet zurückgekehrt war
und eine Frau und eine Familie auf seiner Farm angetroffen hatte, aber sie
unterbrach ihre Freundin nicht.
Ihr Lächeln
wich einem Ausdruck des Mitgefühls, als Rebecca schilderte, wie sie das Geld
verdient hatte, um nach Westen reisen zu können, um Lucas' Haus und Farm zu
übernehmen. »Gestern abend«, schloß sie, »kam Mr. Pontious, um in unserer
Scheune zu übernachten, wie er es so häufig tut. Er hatte eins dieser
gräßlichen Fotos, Mary, und er sagte, er hätte es in Spokane gekauft, von Duke
Jones persönlich.«
Mary
seufzte und umarmte ihre Freundin kurz, bevor sie fragte: »Was hoffst du zu
erreichen, indem du diesen Mann aufsuchst, Rebecca? Er besitzt ganz
offensichtlich keine Skrupel, denn sonst würde er niemals einem derart frivolen
Gewerbe nachgehen.«
»Ich muß es
versuchen«, sagte Rebecca, die steif in dem überfüllten Lagerraum stand. »Ich
liebe Lucas, aber wenn er je eins dieser Bilder sieht, wird er mich verachten.«
»Vielleicht
auch nicht«, wandte Mary ein, aber es klang nicht sehr überzeugt. »Wäre es
nicht besser, wenn du ihm die Wahrheit sagen würdest und darauf hoffst, daß er
versteht? Du wärst nicht der erste Mensch, der mit ein oder zwei Geheimnissen
aus der Vergangenheit in den Westen gekommen ist. Es gibt eine Menge Leute
hier, die hierherkamen, um
auf die eine oder andere Art ein neues Leben zu beginnen.«
Rebecca
schüttelte nur den Kopf. Lucas war ein guter, anständiger Mann–und ein stolzer.
Er würde es nicht ertragen, zu wissen, daß ihre Vorzüge für jeden Mann ersichtlich
waren, der bereit war, zehn Cent dafür zu investieren.
Sie und die
Zwillinge verbrachten die Nacht in Marys Gästezimmer, doch während die Mädchen
fest schliefen, gelang es Rebecca nicht, auch nur ein Auge zuzutun.
Früh am
nächsten Morgen kam die Postkutsche durch die Stadt, und als sie in Richtung
Norden weiterfuhr, nach Spokane, saß Rebecca in dem schaukelnden Gefährt. Sie
war froh, der einzige Passagier zu sein, da es
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