Linda Lael Miller
Mädchen?« fragte sie die Indianerin.
Marias
Gesicht nahm einen abweisenden Ausdruck an. »Ein Junge.«
Das Tablett
enthielt eine verlockende Auswahl von Gerichten, unter anderem
Geflügelpastetchen und einen Teller eingekochter Birnen. »Ich würde ihn gern
einmal sehen. Wie heißt er?«
Maria hielt
den Blick auf Christopher gerichtet, als sie antwortete. »Die Stammesältesten
werden meinem Sohn einen Namen geben, wenn die Zeit gekommen ist.« Dann sah sie
plötzlich Katherine an. »Ich würde ihn auch gern sehen, aber er lebt jetzt bei
meinem Volk.«
Katherine,
die mit Appetit zu essen begonnen hatte, legte die Gabel auf das Tablett zurück
und vergaß das Essen. »Soll das heißen, daß sie dir dein Baby abgenommen
haben?«
»Ich habe
es ihnen gegeben; sein Vater ist der Sohn des Häuptlings. Es ist am besten so.«
Katherine
zwang sich, noch einen Bissen zu sich zu nehmen. »Ich könnte es nicht ertragen,
von Christopher getrennt zu werden«, meinte sie leise.
Ein Blick
in Marias Richtung verriet, daß die Frau sie jetzt in unverhohlener Verwirrung
anstarrte. Vielleicht hatte sie gewußt, daß die Hausherrin beabsichtigte, mit
ihrem Geliebten durchzubrennen und ihr Kind zurückzulassen, damit andere es
aufzogen. Vielleicht hatte Maria sogar
gehofft, die Leere in ihrem Herzen zu füllen, indem sie für das Baby sorgte,
wenn Katherine erst fort war.
»Ich werde
Christopher mit dir teilen«, fügte Katherine sanft hinzu.
Maria
blinzelte und wandte den Blick ab, um Katherine dann wieder anzuschauen. »Sie
haben sich verändert«, stellte sie fest. »Und mir scheint, es gibt da einiges,
woran Sie sich nicht mehr erinnern.«
Katherine
nickte. »Ja, ich habe mich verändert«, pflichtete sie ihr bei. »Ich habe mich
sogar mehr verändert, als irgend jemand auf dieser Welt mir jemals glauben
würde. Und du hast recht – es gibt sehr vieles, woran ich mich nicht erinnere.
Hat Mrs. Wins... habe ich ein Tagebuch geführt, Maria? Habe ich irgendwelche
Briefe aufbewahrt, die ich erhalten habe?«
Christopher
war inzwischen eingeschlafen. Behutsam bettete Maria ihn auf ihren Schoß,
knöpfte ihr Mieder zu und hob den zufriedenen Säugling dann auf ihre Schulter,
damit er sein Bäuerchen machte.
»Ja, es
gibt Papiere«, beantwortete sie Katherines Frage. »Ich werde sie Ihnen bringen,
sobald Dr. Winslow zur Visite ins Krankenhaus gefahren ist.«
»Danke«,
erwiderte Katherine schlicht.
Tatsächlich
suchte Gavin sie jedoch noch einmal in ihrem Zimmer auf, bevor er das Haus
verließ. Fast wäre es ihr lieber gewesen, wenn er getobt und geschrien hätte,
anstatt solch kühle, ruhige Distanz zu ihr zu wahren.
»Ich werde
dich für den Rest des Sommers in unser Ferienhaus auf der Insel schicken«,
teilte er ihr nüchtern mit, in einem Ton, der keinen Widerspruch erlaubte.
Katherine
war zutiefst betroffen. Erstens hatte sie keine Ahnung, welche Insel Gavin
meinte, und zweitens war ihr der Gedanke verhaßt, ihn mit jemandem wie Caroline
Raynes allein in Seattle zurückzulassen. »Habe ich ein Mitspracherecht in
dieser Angelegenheit?« erwiderte sie mit erzwungener Ruhe.
Die
Vorstellung schien Gavin zu verblüffen. »Mitspracherecht?«
Katherine
nickte. Diese Männer aus dem neunzehnten Jahrhundert waren schlicht unmöglich.
»Was wäre, wenn ich dir jetzt sagen würde, daß ich nicht wegfahren möchte und
lieber hier bei dir in Seattle bliebe?«
Gavin stieß
einen leidgeprüften Seufzer aus. »Dann würde ich dir darauf antworten,
Katherine, daß deine Wünsche hier kein großes Gewicht besitzen«, entgegnete er.
Wieder
hatte er Worte benutzt, von denen er wußte, daß sie Katherine kränken würden;
sie schmerzten mindestens so sehr, als wenn er ihr mit dem Handrücken ins
Gesicht geschlagen hätte.
»Bastard«,
sagte sie aufgebracht, aber nicht nur, weil er sie verletzt hatte, sondern
auch, weil Tränen in ihren Augen aufstiegen und sie nicht wollte, daß er sie
wegen irgend etwas weinen sah, was er gesagt oder getan hatte.
Er kam zu
ihrem Bett und beugte sich über sie, um sie auf die Stirn zu küssen. »Ja, ich
liebe dich auch, mein Herz«, erwiderte er mit übertriebener Liebenswürdigkeit.
»Und ich wünsche dir eine angenehme Nachtruhe.«
Und da –
endlich – bemerkte Katherine, daß er formelle Abendkleidung trug. »Du willst
ausgehen!« sagte sie in vorwurfsvollem Ton und sah ihn schon in irgendeinem
eleganten Ballsaal mit einer schönen Frau nach der anderen tanzen. Das nächste
Bild, das ihre
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