Linda Lael Miller
Phantasie ihr vorspielte, zeigte Gavin und die ach so
anständige Miss Raynes, wie sie bei einem ausgiebigen Dinner saßen, sich tief
in die Augen schauten und dann ihre Weingläser klirren ließen in einem Toast,
der den Rest der Welt ausschloß.
»Ja«,
erwiderte Gavin schlicht.
Katherine
begann schon Protest zu erheben, nahm sich dann jedoch zusammen. Sie konnte ihn
unmöglich bitten, nicht auszugehen – nicht nach den Fehltritten, die die
andere Katherine sich geleistet hatte. »Gavin ...« Nervös fuhr sie mit der
Zunge über ihre Lippen, die wie ausgedörrt waren. »Ich weiß nicht, ob ich ...
Ich meine ... würde es etwas nützen, wenn ich dir sagte, daß mir alles sehr,
sehr leid tut, was vor einigen Monaten vorgefallen ist?«
Sie spürte
schon, wie er sich innerlich von ihr distanzierte, noch bevor er von ihrem
Bett zurücktrat. »Nein«, erwiderte er flach. »Dazu ist es jetzt zu spät.«
Und damit
wandte er sich zu der Wiege neben ihrem Bett um. Katherine hätte zu gern seinen
Gesichtsausdruck gesehen,
als er auf den kleinen Christopher hinabschaute, aber da weder die Gaslampen
angezündet waren und auch kein Feuer im Kamin brannte, war es im Zimmer viel zu
dunkel, um sein Gesicht zu erkennen.
»Ich denke,
dir wird inzwischen aufgefallen sein, daß dein Sohn dir wie aus dem Gesicht
geschnitten ist«, bemerkte sie schüchtern.
Da erhob
Gavin endlich wieder den Blick zu ihr, und die Kälte, die sie darin sah, ließ
sie erschaudern. »Ja, Christopher ist
mein Sohn«, stimmte Gavin ruhig zu. »Aber das war nichts
weiter als ein glücklicher Zufall. Genausogut hätte er auch von Beecham oder
dem Mann sein können, der
die Kohlen bringt. Was dich und mich angeht, Katherine, so hat sich nicht das
geringste geändert durch die Tatsache, daß ich dieses Kind als mein eigenes
akzeptiert habe.«
Der
Klumpen, der sich in Katherines Kehle formte, machte es ihr unmöglich, etwas zu
erwidern, aber im Moment wäre
sie ohnehin viel zu verwirrt dazu gewesen. Selbst wenn ihr Leben davon
abgehangen hätte, wäre ihr keine Antwort eingefallen, die scharf genug gewesen
wäre, um Gavins grausamen Worten Paroli zu bieten.
In jener
Nacht schien eine ganz ungewohnte Betriebsamkeit im Haus zu herrschen, aber
Katherine war noch immer viel
zu erschüttert von ihrem Wortwechsel mit Gavin, um sich zu fragen, worauf all
diese hektische Aktivität zurückzuführen sein mochte.
Am Morgen
darauf erfuhr sie es.
»Wir
brechen heute zu unserem Ferienhaus auf der Insel auf«, teilte Marianne ihr
freudestrahlend mit. »Du ahnst gar nicht, wie froh ich bin, daß ich bald wieder
am Strand spazierengehen kann.«
Auch
Katherine liebte den Strand, und die Aussicht, eine Zeitlang in einem Haus am
Meer zu leben, hätte sie in ihrem anderen Leben wahrscheinlich sehr begeistert,
doch jetzt stimmte sie sie nur traurig. Es war offensichtlich, daß Gavin seine
Frau und seine Schwester aus dem Weg haben wollte, um ungestört seine Geliebte
sehen und sie zu sich nach Hause einladen zu können.
Mit einer
wahren Karawane von Kutschen brachen Katherine und Marianne zum Hafen auf. Sie
und ihre Schwägerin fuhren in der ersten, Maria und Christopher in der zweiten,
während ein schwerbeladener Pferdewagen, der ihr Gepäck beförderte, den
Abschluß der Kolonne bildete.
Als sie
Elliott Bay erreichten, wo ein kleines Schiff sie erwartete, um sie nach Vashon
Island zu bringen, besserte Katherines bedrückte Stimmung sich ein wenig. Der
Hafen mit seinen schwankenden Holzstegen, den abenteuerlich aussehenden
Matrosen und dem Gebimmel der Schiffsglocken war so völlig anders als sein
Gegenstück im Seattle der modernen Zeiten, daß Katherine nur noch staunen
konnte.
Nachdem die
Passagiere und ihr Gepäck im Schiff untergebracht waren, betätigte der Kapitän
sein Horn, und das Boot legte ab und nahm Kurs auf das offene Meer. Katherine
stand an der Reling und schaute zu, wie der Hafen langsam immer kleiner wurde.
Die Stadt
war jener anderen, die sie kannte, ungeheuer ähnlich, und doch vollkommen
anders.
Gavin hatte
sich nicht einmal die Mühe gemacht, sie zum Hafen zu begleiten, und Katherine
fragte sich, ob er überhaupt von seiner Dinnerparty am Abend zuvor
zurückgekehrt sein mochte. Sie hatte ihn nicht mehr gesehen, seit er in ihrem
Zimmer gewesen war, und weder auf dem Korridor noch sonst irgendwo im Hause
seine Stimme vernommen.
»Ich habe
die Briefe und die Tagebücher mitgebracht«, sagte Maria, die neben ihr an Deck
erschienen war. Auf
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