Linda Lael Miller
sie
waren bei der Andacht – und schluckte vor Erleichterung und Furcht. Es war
nicht zu sagen, in welchem Jahrhundert sie sich befand, und ihr Instinkt
warnte sie davor, sich sehen zu lassen.
Durch ein
Seitentor verließ Gloriana die Abtei und richtete den Blick auf Kenbrook Hall.
Es sah genauso aus wie damals, als sie und Dane dort eingeschlossen gewesen
waren und in den römischen Bädern im Gewölbe ihr Kind gezeugt hatten. Aber das
hieß noch lange nicht, daß es ihr gelungen war, zu Lebzeiten ihres Mannes
zurückzukehren. Die Burg hatte sich im Verlauf von fast achthundert Jahren nur
geringfügig verändert.
Gloriana
biß sich auf die Lippen, als sie sich nach Hadleigh Castle und dem See
umschaute. In einigen der Fenster brannte Licht, denn es wurde bereits Abend
und immer finsterer.
Sorgfältig
verbarg Gloriana die Plastiktüte unter ihrem weiten Rock und band sie an der
Spitze ihres Mieders fest.
Es gab nur
einen Weg, herauszufinden, ob Dane noch lebte, und Gloriana war viel zu
aufgeregt, um bis zum nächsten Morgen abzuwarten. Einem versteckten Pfad
folgend, der durch die Wälder und um den See führte, näherte sie sich Hadleigh
Castle und ihrem Schicksal.
Der
Mondschein glitzerte auf dem Wasser, aber Gloriana blieb nicht stehen, um
seinen silbernen Tanz zu bewundern, wie sie es unter anderen Umständen getan
hätte. Das einzige, woran sie denken konnte, war, Dane zu finden.
Vielleicht
bemerkte sie deshalb den Reiter erst, als er ihr so nahe war, daß sie zur Seite
springen mußte, um nicht von den Hufen seines Pferdes niedergetrampelt zu werden.
»Wer geht
dort?« rief eine vertraute Stimme, als der Reiter das Pferd zügelte und aus
dem Sattel sprang. »Großer Gott, Gloriana – bist du es?«
Edward!
Freudentränen stiegen in Glorianas Kehle auf, schnürten ihr den Hals zu und
hinderten sie daran, auch nur ein Wort hervorzubringen. Aufschluchzend warf sie
Edward die Arme um den Nacken und bedeckte sein Gesicht mit Küssen. Edward.
Er lebte.
Er schob
sie zurück, um sie anzusehen, mit schmalen Augen, die vor Ärger funkelten.
»Bist du verrückt, allein hier draußen in der Finsternis herumzulaufen? Und wo
hast du eigentlich gesteckt – wir haben die ganze Umgebung nach dir
abgesucht!«
Gloriana
kämpfte um Beherrschung, aber es war sinnlos – sie konnte nur noch lachen,
weinen und sehr undamenhaft die Nase hochziehen. Edward stand vor ihr, gesund
und wohlauf, was bedeutete, daß auch Dane, Gareth und die liebe, liebe Elaina
sich noch unter den Lebenden befanden. Durch Gottes Gnade und Seine Engel war
es ihr gelungen, rechtzeitig zurückzukehren, um den Lauf der Dinge zu
verändern.
»Komm, ich
bringe dich jetzt besser zurück zu Heim und Herd«, fuhr Edward fort und zog sie
hinter sich in den Sattel. »Dane ist nämlich überzeugt, daß Merrymont dich
entführt hat, und wenn Gareth ihn nicht im Kerker eingesperrt hätte, wäre er
schon unterwegs, um die Burg des Mannes zu stürmen!«
Gloriana
lehnte den Kopf an Edwards Schulter und lachte so ungestüm, daß heftiger
Schluckauf sie erfaßte. »Bring ... mich ... heim ...«, gelang es ihr zu sagen,
und Edward wendete sein Pferd in Richtung Hadleigh Castle und trieb das Tier
mit dem Absatz seiner weichen Lederstiefel an.
»Wie lange
war ich vermißt?« fragte Gloriana schüchtern, als sie die Zugbrücke
überquerten und den äußeren Burghof erreichten, wo die Turniere abgehalten
wurden.
Edward
wirkte jetzt noch besorgter als zuvor. »Du weißt nicht, wo du warst und was du
getrieben hast?«
Sie
zögerte, als die Geräusche und Gerüche der vertrauten Umgebung langsam in ihr
Bewußtsein drangen. »Nein«, gestand sie, als sie durch das Dorf ritten.
»Du bist
gestern morgen auf dem Friedhof von Kenbrook Hall spazierengegangen«, sagte
Edward. »Deine Zofe, Judith, brachte dir einen Umhang, mit der Absicht, dich zu
bitten, mit ihr in die Burg zurückzukehren. Etwas lenkte sie ab – nur für einen
Moment, schwört sie –, und als sie wieder hinschaute, warst du verschwunden.«
Gestern
morgen. Trotz
allem, was geschehen war, war sie nur etwa sechsunddreißig Stunden von Dane
getrennt gewesen! Er würde sich nicht an ihren letzten Besuch erinnern, als
sie ihm auf der Wiese hinter Kenbrook Hall entrissen worden war – für ihn war
das nie geschehen. Und natürlich auch nicht seine tödliche Auseinandersetzung
mit Edward. Gareth war nie am Fieber erkrankt, und Elaina ging es sicherlich so
gut, wie man den Umständen nach erwarten
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