Linda Lael Miller
Frauen schände? Das dürfte mich
eigentlich nicht überraschen oder kränken, doch seltsamerweise tut es das.«
Sie wurden
in der zunehmenden Dunkelheit verfolgt; Gloriana wußte es und Merrymont
ebenfalls, dessen war sie sich ganz sicher. Und doch wagte niemand, die kleine
Truppe anzugreifen, aus Angst, daß Lady Kenbrook dabei verwundet wurde. Nach
einer Stunde etwa ritten sie über eine dunkle Zugbrücke in einen Hof hinein, in
dem es so finster war, daß man nicht die Hand vor Augen sehen konnte.
Die
riesigen Tore fielen krachend hinter ihnen zu. »Kommt«, forderte Merrymont sie
brüsk auf. »Ihr werdet schlafen wollen.«
Gloriana
folgte ihm, weil ihr nichts anderes übrigblieb. »Ich bin schwanger«, sagte sie,
als sie versuchte, mit Merrymont Schritt zu halten. »Wenn ihr mir Schaden
zufügt, werdet Ihr auch dem Kind schaden, das ich unter dem Herzen trage. Und
Kenbrook wird nicht eher ruhen, bis er Euch getötet hat.«
»Er wird
morgen Gelegenheit dazu haben«, entgegnete Merrymont müde. Als sie seine
privaten Räume erreichten, die klein waren im Vergleich zu Hadleigh Castle
oder Kenbrook Hall, wurden sie von Dienerinnen erwartet, deren flackernde
Lampen weniger Licht als Schatten warfen. »Das ist meine Nichte«, teilte
Merrymont ihnen zerstreut mit, als sei er in Gedanken bereits bei anderen Dingen.
»Bringt sie in einem warmen, sauberen Zimmer unter.«
»Ja,
Mylord«, erwiderten die Frauen im Chor. Gloriana kniff die Augen zusammen, aber
in der Dunkelheit konnte sie nicht erkennen, wie viele es waren.
Aber das
war schließlich auch nicht wichtig, denn selbst wenn es ihr gelungen wäre, sie
alle zu überwältigen, hätte sie nicht fliehen können. Die Mauern waren hoch, die
Tore geschlossen, und die Burg war gut bewacht. Wahrscheinlich sollte ich schon
froh sein, dachte Gloriana, daß Merrymont mich nicht in seine eigenen Gemächer
bringt.
Vielleicht
hatte er die Wahrheit gesagt, zumindest, als er behauptet hatte, kein Frauenschänder
zu sein. Doch Gott und die Heilige Jungfrau mochten wissen, was er sonst noch
war.
Gloriana
wurde in eine kleine Kammer gebracht, die drei Talgkerzen erhellten. An einer
Wand befand sich ein Bettgestell mit einer Matratze aus grobem Hanf.
»Möchtet
Ihr etwas zu essen, Mylady?« fragte eine der Dienerinnen, als Gloriana eine
Decke und einen Krug mit Wasser erhalten hatte.
»Wenn ich
etwas esse, muß ich mich erbrechen«, erwiderte Gloriana. Sie hatte nicht
unfreundlich sein wollen; sie war nur müde und vollkommen durcheinander.
Die Frauen
verneigten sich vor ihr und gingen. Die Tür fiel hinter ihnen ins Schloß, dann
wurde von außen ein Riegel vorgeschoben.
Seufzend
setzte Gloriana sich auf ihr unbequemes Bett. Morgen würde Kenbrook kommen, wie
vereinbart, um sich auf etwas einzulassen, was nur eine Falle sein konnte, und es gab
keine Möglichkeit, ihn zu retten. All ihre Liebe, all ihr Schmerz und ihre
Sehnsucht, ihr Lachen und ihre Tränen waren umsonst gewesen.
Sie
streckte sich auf dem schmalen Lager aus, und ihre Augen brannten vor
ungeweinten Tränen. Tu es nicht, Dane, dachte sie, versuch nicht,
mich zu retten. Merrymont wird dich töten ...
Irgendwann
gähnte sie und schloß die Augen. Aber obwohl sie todmüde war, wußte sie, daß
sie nicht schlafen würde. Zuviel stand auf dem Spiel.
Das
nächste, was sie bemerkte, war, daß die Sonne hell und warm auf ihr Gesicht
schien.
Sie
richtete sich auf und schaute sich erstaunt in dieser fremden, kleinen Kammer
um, bevor ihr einfiel, daß Merrymont sie entführt hatte und heute ihren
geliebten Gatten töten würde.
Denn
Gloriana hegte keinen Zweifel daran, daß Merrymonts Männer Dane töten würden,
selbst wenn er das Duell überlebte. Kenbrook sollte sich in die Höhle des Löwen
begeben, und sie war der Köder, der ihn dem sicheren Tod entgegenführte.
Sie ging
zur Tür und warf sich zornig und empört dagegen. »Laß mich heraus, Merrymont!«
schrie sie. »Komm her, du blutrünstiger Feigling! Oder hast du Angst vor einer Frau?«
Die schwere
Tür öffnete sich so unvermittelt, daß Gloriana buchstäblich auf den Gang
hinausstürzte.
Merrymont
stand vor ihr und sah erstaunlich attraktiv und anziehend aus im hellen Schein
der Morgensonne. Er trug ein sauberes Wams, sein blondes Haar glänzte und war
noch feucht, und sein Lächeln war offen und ungewöhnlich nachsichtig.
»Nein«,
sagte er freundlich. »Ich habe keine Angst, weder vor Euch noch vor irgendeiner
anderen Frau.«
Gloriana
bedachte
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