Lindenallee
ehrfurchtsvoll von den Toten.“
„ Entschuldige Mutter.“ Bedauernd senkte er für einen Moment den Blick. Dann schoss sein Kopf in die Höhe. „Was seltsam ist: Frau Stein ist heute nicht auf dem Rittergut zur Arbeit erschienen. Sie hat noch nie einen Tag gefehlt.“
Ich hielt inne. Friedrichs Mutter nicht bei der Arbeit? Mein Magengrummeln verstärkte sich.
„V ielleicht hat sie sich gedacht, dass sie die Zwillinge jetzt nicht mehr unterrichten muss“, vermutete Mutter.
Heinz zuckte unwissend mit den Schultern. „Ich weiß nicht. Es hörte sich so an, als ob sie unentschuldigt fehlte.“
Heinz warf mir einen Blick zu und bemerkte mein angespanntes Gesicht. Sofort erinnerte er sich an die letzte Nacht und an meine Vorahnungen, etwas Schlimmes sei passiert.
„ Magarete, iss deine Suppe auf.“ Meine Mutter bemerkte nicht, wie in mir ein Sturm losbrach.
Ich bekam kaum noch einen Bissen hinunter, denn die Sache mit Frau Stein war für mich ein böses Omen. Meine Gedanken rotierten im Kreis und die Frage nach Friedrich, ob etwas mit ihm sei, verstörte mich zutiefst.
Nach dem Abendessen kamen wir nicht so schnell von zu Hause weg, wie es uns lieb war. Heinz reparierte mit unserem Vater den Pferdewagen und ich mangelte mit meiner Mutter die Wäsche. Meine Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Endlich hatten wir unsere Pflichten erledigt und rannten zur Lindenallee. Wie den Abend zuvor, war Friedrich nirgends zu sehen. Wir geduldeten uns und spielten eine Weile mit Murmeln, bis es uns zu langweilig wurde.
„ Komisch, Friedrich kommt nicht“, sprach Heinz meine innerste Befürchtung aus.
„ Friedrichs Mutter heute nicht im Rittergut, Friedrich der nicht auftaucht. Da ist etwas faul.“ Ich stand auf und steckte die Murmeln in meine Schürze. „Ich gehe bei ihnen nachsehen. Kommst du mit?“
„ Wenn wir erwischt werden, gibt es Ärger. Das weißt du.“
„ Ist mir egal. Ich will wissen was los ist.“ Energisch schritt ich Richtung Dorf aus. Heinz holte mich schnell ein.
„Ich komme mit. Ich kann dich doch nicht alleine gehen lassen.“
Ich war ihm dankbar, dass er bei mir blieb. Wir gingen bis zum Ende der Lindenallee und folgten der Straße links in den alten Ortskern hinein. Friedrich und seine Mutter wohnten abseits der Hauptstraße zur Untermiete bei den Rudlofs. Die Wohnung lag im Parterre. Wir schlichen auf die Fenster zu, um einen Blick hinein erhaschen zu können.
„ Was macht ihr da?“, ertönte eine unfreundliche Stimme. Ertappt starrten wir in diese Richtung. Hinter einer niedrigen Hecke des Nachbarhauses stand Frau Beinerlich, die Nachbarin von den Rudlofs.
Heinz fand zuerst seine Sprache wieder.
„Wir wollten uns nach dem Befinden von Frau Stein erkundigen. Sie ist heute nicht auf dem Rittergut erschienen.“
„ Da seid ihr heute nicht die Ersten, die nach ihr fragen. Erich Klagenfurth war heute Morgen mit seinen Volkspolizisten da.“ Frau Beinerlich trat neugierig näher.
„ Bei euch sind sie ja gestern gewesen. Interessant, wer hier alles verdächtigt wird.“ Sie sah uns von oben herab an. Ich mochte diese Frau nicht.
„ Ist denn Frau Stein jetzt zu Hause?“, fragte ich.
„ Ach!“ Frau Beinerlich lachte hart auf. Das Geräusch trieb mir kleine Nadelspitzen tief in die Haut. „Die ist mit ihrem Sohn in einer Nacht und Nebel Aktion verschwunden.“ Frau Beinerlich schüttelte pikiert den Kopf.
Ab diesem Zeitpunkt nahm ich meine Umwelt nur noch wie durch Watte wahr. In mir zerbrach etwas, wie eine Glaskugel, die einem aus der Hand fällt und am Boden in tausende Stücke zerbrach. Ich bekam keinen klaren Gedanken mehr gefasst und meine Stimme versagte mir.
„ Was? Die sind weg?“ Heinz sprach entsetzt aus, was mir auf der Zunge lag.
„ Ja, weg. Die restliche Miete haben sie auf dem Küchentisch gelassen. Das ein oder andere von ihrem Hab und Gut haben sie vergessen. Sie müssen es sehr eilig gehabt haben.“ Frau Beinerlich stemmte die Hände in die Seite. „Ist doch seltsam. Sie verschwinden die Nacht nach dem furchtbaren Mord an Hein Kummerlich. Sehr seltsam.“ Sie rieb sich nachdenklich die Nase.
Ich hatte genug gehört. Ich fasste Heinz an der Hand und zog ihn fort. Mir war schwindelig und in meinem Mund hatte ich den Geschmack von bitterer Galle.
„ So was, freche Kinder! Gehen, ohne sich zu verabschieden“, rief Frau Beinerlich hinter uns her.
„ Heinz, mir ist ganz schlecht. Mein Alptraum ist wahr geworden. Friedrich ist weg.“ Mir
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