Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)
selbstverständlich in den diplomatischen Grenzen der Freundschaft. Erst vor ein paar Monaten war in einem Versuchsbetrieb siebenundvierzig Kilometer von Magadan die Herstellung elektrischer Glühbirnen in Gang gebracht worden. Nur ein Kolymabewohner weiß so etwas zu schätzen. Für das Verschwinden von Glühbirnen kam man vor Gericht; in den Minen führte der Verlust einer Glühbirne zu Tausenden verlorener Arbeitsstunden. Glühbirnen von auswärts konnte man nicht besorgen. Und nun plötzlich ein solches Glück. Man hat etwas Eigenes geschaffen! Sich von »ausländischer Abhängigkeit« befreit!
Moskau würdigte Iwan Fjodorowitschs Leistungen – er wurde mit einem Orden ausgezeichnet. Mit kleineren Orden wurden der Fabrikdirektor, der Leiter der Abteilung, in der diese Glühbirnen hergestellt wurden, und die Laboranten ausgezeichnet. Alle außer dem Mann, der diese Produktion aufgebaut hatte. Das war der Charkower Atomphysiker Georgij Georgijewitsch Demidow , ein Kürzelträger mit fünf Jahren Haft – entweder »asa« (antisowjetische Agitation) oder etwas in der Art. Demidow dachte, man würde ihn wenigstens zur Vorfristigen vorschlagen, und auch der Fabrikdirektor hatte eine Andeutung gemacht, aber Iwan Fjodorowitsch hielt einen solchen Antrag für einen politischen Fehler. Ein Faschist, und dann – vorfristige Entlassung! Was wird Moskau sagen. Nein, soll er froh sein, daß er nicht bei den »allgemeinen Arbeiten«, daß er im Warmen arbeitet – das ist besser als alle Vorfristigkeit. Und einen Orden kann er, Demidow, natürlich nicht erhalten. Mit Orden zeichnet man treue Staatsdiener aus und nicht Faschisten.
»Eine Prämie von fünfundzwanzig Rubeln, die kann man ihm zuschieben. Ein bißchen Machorka oder Zucker ...«
»Demidow raucht nicht«, sagte der Fabrikdirektor ehrerbietig.
»Raucht nicht, raucht nicht ... dann tauscht er sie gegen Brot oder sonst etwas ... und wenn er keine Machorka braucht, dann braucht er neue Kleidung – keine Lagerkleidung, sondern, du verstehst ... Die amerikanischen Garnituren in Schachteln, die wir euch seit kurzem als Prämie geben. Habs ganz vergessen. Ein Anzug, ein Hemd, eine Krawatte. In so einer weißen Schachtel. So könnt ihr ihn auszeichnen.«
Auf der Festsitzung wurde jedem der Helden im Beisein Iwan Fjodorowitschs eine Schachtel mit dem amerikanischen Geschenk überreicht. Alle verbeugten und bedankten sich. Doch als Demidow an der Reihe war, trat er an den Präsidiumstisch, legte die Schachtel auf den Tisch und sagte:
»Ich werde die amerikanischen Altkleider nicht tragen«, drehte sich um und ging.
Iwan Fjodorowitsch bewertete das vor allem vom politischen Standpunkt, als den Ausfall eines Faschisten gegen den sowjetisch-amerikanischen Block der freiheitsliebenden Länder, und rief am selben Abend in der Bezirksabteilung an. Demidow kam vor Gericht, er erhielt eine »Zugabe« von acht Jahren, verlor seine Arbeitsstelle und wurde in eine Strafmine geschickt, zu den »Allgemeinen«.
Heute, nach Wallace’ Visite, dachte Iwan Fjodorowitsch mit sichtlicher Zufriedenheit an den Vorfall mit Demidow Politischer Weitblick war immer ein Vorzug Iwan Fjodorowitschs gewesen.
Seit seiner kürzlichen Heirat mit der zwanzigjährigen Komsomolzin Rydassowa kümmerte sich Iwan Fjodorowitsch besonders um sein Herz. Iwan Fjodorowitsch hatte sie zu seiner Frau gemacht und zur Chefin einer großen Lagerabteilung – zur Herrin über Leben und Tod vieler Tausend Menschen. Die romantische Komsomolzin hatte sich schnell zur Bestie entwickelt. Sie ließ verbannen, verteilte Verfahren, Haftstrafen und »Zugaben« und war Zentrum verschiedenster schäbiger Lagerintrigen.
Das Theater bereitete Madame Rydassowa sehr viel Sorgen.
»Hier ist eine Anzeige von Kosin eingegangen, daß der Regisseur Warpachowskij Pläne für die Erste-Mai-Demonstration in Magadan ausgearbeitet hat – die Festmarschblöcke als Kreuzgang zu gestalten, mit Kirchenfahnen und Ikonen. Und daß hier natürlich eine geheime konterrevolutionäre Arbeit vorliegt.«
Madame Rydassowa waren diese Pläne auf der Sitzung nicht irgendwie kriminell vorgekommen. Demonstration ist Demonstration. Nichts Besonderes. Und plötzlich – Kirchenfahnen! Man mußte etwas tun; sie beriet sich mit ihrem Mann. Ihr Mann, Iwan Fjodorowitsch – er hatte Erfahrung –, nahm Kosins Meldung sofort in höchstem Maße ernst.
»Er hat sicher recht«, sagte Iwan Fjodorowitsch. »Er schreibt auch nicht nur von den Kirchenfahnen. Wie
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