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Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Titel: Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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eingebracht hätten: sie haben die Schaufel auf einen anderen, langen Stiel gesetzt. Die bequemste Länge von Stiel und Schaufel sei vom Boden bis zur Nasenwurzel. Der neben Iwan Fjodorowitsch stehende Mann in Zivil zeigte, wie man das macht. Es war Zeit, zur »Stoßarbeit« anzutreten – zum Ernten der Kartoffeln, die im Hohen Norden gar nicht schlecht wuchsen.
    Wallace interessierte alles. Wie zieht man hier Kohl, und Kartoffeln? Wie setzt man sie? Mit Setzlingen? So wie den Kohl? Erstaunlich. Wie ist die Ernte pro Hektar?
    Wallace sah sich ab und zu nach seinen Nachbarn um. Um die Chefs herum gruben junge Leute – rotwangig, zufrieden. Sie gruben fröhlich und munter. Wallace paßte einen Augenblick ab und betrachtete ihre Hände, die weißen, mit der Schaufel unvertrauten Finger und lachte, weil er begriff, das waren verkleidete Wachposten. Wallace sah alles: die abgesägten Wachtürme ebenso wie die nicht abgesägten Wachtürme und die Traube von Häftlingsbaracken hinter Stacheldraht. Er wußte über dieses Land nicht weniger als Iwan Fjodorowitsch.
    Sie gruben fröhlich. Iwan Fjodorowitsch war bald ermüdet – er war ein aufgeschwemmter, schwerer Mann, aber er wollte dem amerikanischen Vizepräsidenten nicht nachstehen. Wallace war leicht wie ein Jüngling, beweglich, auch wenn er an Jahren älter war als Iwan Fjodorowitsch.
    »Ich bin von meiner Farm an solche Arbeit gewöhnt«, sagte Wallace fröhlich.
    Iwan Fjodorowitsch lächelte, er machte immer öfter Verschnaufpausen.
    »Wenn ich jetzt ins Lager zurückkomme«, dachte Iwan Fjodorowitsch, »lasse ich mir unbedingt Glukose spritzen.« Iwan Fjodorowitsch hatte die Glukose sehr gern. Für das Herz war die Glukose hervorragend. Er wird es riskieren müssen – seinen Hausarzt hatte Iwan Fjodorowitsch auf diese Reise nicht mitgenommen.
    Die »Stoßarbeit« war zu Ende, und Iwan Fjodorowitsch befahl, den Chef der Sanitätsabteilung zu rufen. Der erschien blaß und erwartete das Schlimmste. Denunziationen wegen diesem verdammten Angeln, als die Kranken für den Chef der Sanitätsabteilung ein paar Fische gefangen hatten? Aber das war ja eine von der Zeit geheiligte Tradition.
    Als Iwan Fjodorowitsch den Arzt sah, bemühte er sich, so wohlwollend wie möglich zu lächeln.
    »Ich brauche eine Glukose-Injektion. Glukose-Ampullen habe ich dabei. Meine eigenen.«
    »Sie? Glukose?«
    »Wieso wundert dich das so?«, sagte Iwan Fjodorowitsch mit einem mißtrauischen Blick auf den erheiterten Chef der Sanitätsabteilung. »Hier, gib mir die Spritze!«
    »Ich? Ihnen?«
    »Du. Mir.«
    »Glukose?«
    »Ja, Glukose.«
    »Ich lasse es Pjotr Petrowitsch tun, unseren Chirurgen. Er macht das besser als ich.«
    »Und was ist mit dir, du kannst das nicht?«, sagt Iwan Fjodorowitsch.
    »Doch, Genosse Natschalnik. Aber Pjotr Petrowitsch kann es besser. Und die Spritze bekommen Sie von mir, meine eigene.«
    »Ich habe auch meine eigene Spritze.«
    Man schickte nach dem Chirurgen.
    »Zu Befehl, Genosse Natschalnik. Chirurg am Krankenhaus Krasnizkij.«
    »Bist du Chirurg?«
    »Ja, Genosse Natschalnik.«
    »Ehemaliger Häftling?«
    »Ja, Genosse Natschalnik.«
    »Kannst du mir eine Spritze geben?«
    »Nein, Genosse Natschalnik. Ich verstehe nichts davon.«
    »Du kannst keine Spritzen geben?«
    »Bürger Natschalnik«, mischte sich der Chef der Sanitätsabteilung ein, »wir schicken Ihnen sofort einen Feldscher. Einen Häftling. Der macht es so – Sie spüren gar nichts. Geben Sie doch Ihre Spritze hierher. Ich koche sie in Ihrem Beisein aus. Pjotr Petrowitsch und ich passen auf, daß er keine Sabotage betreibt, keinen Terrorismus. Wir halten den Schlauch. Krempeln Ihnen den Ärmel hoch.«
    Der gefangene Feldscher kam, wusch sich die Hände, rieb sie mit Spiritus ein und gab die Spritze.
    »Kann ich gehen, Bürger Natschalnik?«
    »Geh«, sagte Iwan Fjodorowitsch. »Gebt ihm ein Päckchen Papirossy aus der Aktentasche.«
    »Keine Ursache, Bürger Natschalnik.«
    Als so schwierig erwies es sich also unterwegs mit der Glukose. Iwan Fjodorowitsch hatte lange das Gefühl, als habe er Fieber und Schwindel, als sei er vergiftet worden von diesem gefangenen Feldscher, aber schließlich beruhigte sich Iwan Fjodorowitsch.
    Am folgenden Tag begleitete Iwan Fjodorowitsch Wallace nach Irkutsk, er bekreuzigte sich vor Freude und befahl, die Wachtürme wieder aufzustellen und die Ware aus dem Laden – zu entfernen.
    Seit kurzem fühlte sich Iwan Fjodorowitsch als besonderer Freund Amerikas,

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