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Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Titel: Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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Krankenhaus-Chefs.
    »Zu Befehl, Genosse Natschalnik.«
    »Hast du Kinder hier?«
    »Eigene Kinder? Die gehen in Moskau zur Schule, Genosse Natschalnik.«
    »Doch nicht deine. Kinder, na, kleine Kinder. Gibt’s hier einen Kindergarten? Einen Kindergarten?«, schnauzte Iwan Fjodorowitsch.
    »Da in diesem Haus, Genosse Natschalnik.«
    Der SIM folgte Iwan Fjodorowitsch zum Gebäude des Kindergartens. Keiner sagte etwas.
    »Ruft die Kinder«, verfügte Iwan Fjodorowitsch.
    Die Kinderfrau vom Dienst sprang auf.
    »Sie schlafen ...«
    »Tsss«, der Krankenhaus-Chef schob die Kinderfrau beiseite. »Alle rufen, alle wecken. Sieh zu, daß die Händchen gewaschen sind.«
    Die Kinderfrau lief in den Kindergarten.
    »Ich will die Kinder im SIM spazierenfahren«, sagte Iwan Fjodorowitsch und steckte sich eine Papirossa an.
    »Ach, spazierenfahren, Genosse Natschalnik. Wie wunderbar!«
    Die Kinder kamen schon die Treppe heruntergerannt und umringten Iwan Fjodorowitsch.
    »Steigt ins Auto«, rief der Krankenhaus-Chef. »Iwan Fjodorowitsch fährt euch spazieren. Der Reihe nach.«
    Die Kinder stiegen in den SIM, Iwan Fjodorowitsch setzte sich neben den Chauffeur. So fuhr der SIM alle Kleinen in drei Etappen spazieren.
    »Und morgen, und morgen? Kommen Sie wieder?«
    »Ich komme, ich komme«, versicherte Iwan Fjodorowitsch.
    »Das ist gar nicht übel«, dachte er und legte sich auf das schneeweiße Laken des »Hauses«, »Kinder, der gute Onkel. Wie Iossif Wissarionowitsch mit dem Kind auf dem Arm .«
    Am folgenden Tag rief man ihn nach Magadan. Iwan Fjodorowitsch wurde befördert – zum Minister der Buntmetall-Industrie, aber natürlich ging es um etwas anderes.
    Die Magadaner Reisende Kulturbrigade zog über die Trasse und durch die Bergwerke der Kolyma. Und mit ihr auch Leonid Warpachowskij. Dusja Süskind, seine Lagerehefrau, war in Magadan geblieben auf Befehl der Chefin Rydassowa. Seine Lagerehefrau. Das war echte Liebe, echtes Gefühl. Er mußte das wissen, als Schauspieler, als professioneller Meister der gespielten Gefühle. Was weiter tun, wen bitten? Warpachowskij verspürte eine schreckliche Müdigkeit.
    In Jagodnoje umringten ihn die örtlichen Ärzte – Freie und Häftlinge.
    In Jagodnoje. Vor zwei Jahren war er von Jagodnoje bei der Spezialzone vorbeigefahren, es war ihm gelungen, sich in Jagodnoje »festzusetzen«, das schreckliche Dshelgala zu vermeiden. Was für Mühe das gekostet hatte! Er mußte eine Unmenge Phantasie und Können beweisen und die Fähigkeit, das Wenige zu nutzen, das er im Norden in der Hand hatte. Und er mobilisierte sich – er wird ein Musikschauspiel inszenieren. Nein, nicht Verdis »Maskenball«, den er fünfzehn Jahre später fürs Kreml-Theater inszenierte, nicht »Die Moral der Frau Dulski« , nicht Lermontow am Kleinen Theater, nicht die Chefregie am Jermolowa-Theater. Er wird die Operette »Die schwarze Tulpe« inszenieren. Kein Klavier vorhanden? Dann begleitet ein Ziehharmonikaspieler. Warpachowskij wird die Opernmusik selbst für Ziehharmonika arrangieren, selbst auf dem Bandoneon spielen. Und wird inszenieren. Und siegen. Und Dshelgala entgehen.
    Er wird seine Versetzung ans Magadaner Theater erreichen, wo er die Protektion von Rydassowa genießt. Er ist bei der Leitung bestens angeschrieben. Warpachowskij bereitet Laienkunstschauen vor, bereitet Schauspiel um Schauspiel vor im Theater von Magadan – eines interessanter als das andere. Und – die Begegnung mit Dusja Süskind, der Sängerin, die Liebe, Kosins Anzeige, das Herumtingeln.
    Viele von denen, die jetzt um den Lastwagen standen, auf dem die Kulturbrigade reiste, kannte Warpachowskij. Hier war Andrejew, mit dem gemeinsam er vor Zeiten von Neksikan in die Spezialzone an der Kolyma gefahren ist. Sie hatten sich im Badehaus getroffen, im winterlichen Badehaus – Dunkelheit, Schmutz, schwitzende, glitschige Körper, Tätowierungen, unflätiges Fluchen, Geschubse, die Anschnauzer der Begleitposten, die Enge. Eine Funzel an der Wand, an der Funzel der Friseur auf einem Hocker mit dem Haarschneider in der Hand – alle der Reihe nach, feuchte Wäsche, Eisdampf um die Füße, eine Schöpfkelle für das gesamte Waschen. Kleiderbündel fliegen im Dunkeln in die Luft. »Wem gehörts? Wem gehörts?«
    Und dann hört dieses Gedröhn, dieser Lärm plötzlich auf. Und der Nachbar Andrejews, der in der Schlange steht, um sich den üppigen Haarschopf schneiden zu lassen, spricht mit klingender, ruhiger, sehr schauspielerhafter

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