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Linna singt

Linna singt

Titel: Linna singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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Ich bin kein lieber Mensch, mit dem man in der Sauna Seelengespräche führt und sich dabei ein bisschen streichelt. Such dir ein nettes Mädchen, meinetwegen Maggie, Maggie ist nett. Zickig, aber nett. Sie heult los, anstatt auszurasten. Sie würde nie jemandem Gewalt antun.
    Nein. Nein, so einfach ist es nicht! Wenn sie mir die Haare abgeschnitten hat, war das ebenfalls Gewalt. Die anderen bringen mich erst dazu, so zu sein. Ohne sie wäre ich so nicht. Oder ist es andersherum? Bringe ich sie dazu, sich danebenzubenehmen und mich zu reizen – würden sie ohne mich niemals auf derartige Ideen kommen? Ich löse das aus, oder?
    Aber warum? Was bringt Jules dazu, sein Schlagzeug zu zertrümmern und mich zu ohrfeigen, was ermuntert Maggie dazu, sich Gemeinheiten auszudenken, was ist es, das Falk dazu bewegt, absichtlich eine Nacht mit mir zu vergessen, und Simon, mir Dinge zu unterstellen, die kein normaler Mensch freiwillig tun würde? Sich selbst anprangern, um auf sich aufmerksam zu machen – warum denken sie das über mich? Ich habe nie mit einem anderen Menschen darüber geredet, mit solchen Erlebnissen geht man nicht hausieren. Wie geltungsbedürftig müsste ich sein, um es dann nachts an die Wand zu pinseln, damit es jeder sieht!
    Mit dem Kopf in meinen Händen bleibe ich auf der Eckbank sitzen und warte, bis mein Atem gleichmäßiger geht und ich es nicht mehr fertigbringe, passiv zu verharren, während Falk draußen allein gegen die Schneemassen ankämpft.
    Als ich warm eingepackt in Jacke, Schal und Mütze zu ihm stoße, unterbricht er seine Arbeit nicht. Er dreht sich auch nicht zu mir um. Stur schaufelt er weiter, als wäre er der einzige Mensch auf der Welt.
    »Soll ich dir helfen?« Ich könnte die normale Schaufel aus dem Anbau holen, sie ist zwar schwer und unhandlich, aber wir kämen schneller voran.
    »Nein. Ich brauch Luft für mich.«
    Okay, ich verstehe. Er will allein sein. Dann soll er auch allein schuften. Ich lasse ihn weiterschaufeln und stapfe zum Anbau hinüber. Wieder werden meine Boots nass bis über die Knöchel, aber ich habe mich beinahe schon daran gewöhnt, dass ich fast ununterbrochen friere. Ich will nach Linna sehen, außer mir kümmert sich ja niemand um sie. Wahrscheinlich braucht sie dringend frische Brotkrumen und Wasser.
    Doch Linna braucht gar nichts mehr. Es ist zwecklos, sich neben sie zu knien und über ihren Bauch zu streichen, wie ich es tue, blind vor Tränen und mit einem leeren, hohlen Gefühl im Magen. Sie liegt auf dem Rücken, die Krallen gekrümmt, die Beine nach oben gestreckt, und ist schon steif, ich weiß nicht, ob von der Kälte oder vom Tod. Bevor sie starb, muss sie versucht haben, ein paar Brotkrumen zu picken, ein Krümel steckt noch in ihrem Schnabel, immerhin, sie hat es versucht, so sehr. Sie wollte leben.
    Trotz der Kälte setze ich mich auf den harten Boden und bette sie in meinen Schoß, um ihr immer wieder über das zarte Gefieder auf ihrem Bauch zu streichen, als könne ich sie damit wiederbeleben, eine völlig sinnlose Geste, sie spürt es ja nicht einmal mehr. Aber ich spüre es.
    Als Falk zu uns kommt, um die Schippe an die Wand zu stellen und frisches Brennholz zu holen, sitze ich immer noch mit dem Rücken zur Gasflasche und streichle das tote Huhn. Ich weiß nicht, ob ich jemals wieder etwas anderes tun kann. Ob ich Maggie, Jules, Tobi und Simon begegnen will. Ich kann mir keine Zukunft mehr vorstellen. Es gibt kein Morgen. Da ist nur ein finsterer Tunnel, der ins Nichts führt. Aber gehen muss ich ihn trotzdem.
    »War es meine Schuld?«
    »Nein.« Falk hockt sich neben mich und zieht mir behutsam das Huhn aus den Händen, um zur Tür zu gehen und es mit einem kräftigen Schwung seines rechten Arms nach draußen in den Schnee zu befördern. Ich weiß schon, der Fuchs. Linna wird ihre letzte Ruhestätte in seinen Eingeweiden finden. »Ihre Stunden waren gezählt. Ich hab das sofort gesehen.« Das meinte ich nicht, Falk. Ich meinte so viel mehr. Doch ich halte meinen Mund.
    Mit jeder verstreichenden Sekunde, in der Falk und ich uns anschweigen, wächst meine Reue über das, was ich getan habe. Ich habe Simon angegriffen. Es ist erschreckend genug, dass ich ihm gegenüber aggressiv wurde, aber ich musste es auch noch tun, obwohl er krank ist. Einen Kranken fasst man nicht an. Und man vergeht sich nicht an Schwächeren. Ich habe doppelt versagt.
    Wie konnte das passieren? Ausgerechnet Simon, der für mich immer der personifizierte Pazifismus

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