Linna singt
stumpf und leer; wer nicht mehr denken kann, kann mir auch nicht im Weg stehen.
»Soll’n wir hier reden?«, fragt Falk beiläufig. Es klingt ganz anders, als wenn Tobi mich fragt, ob wir reden sollen. Bei Tobi hat es sofort diesen Kuschelcharakter, er meint nicht reden, sondern nahekommen. Bei Falk klingt es nebensächlich und entspannt, gar nicht so, als brenne er darauf, sondern als nehme er es in Kauf, weil er sowieso nichts Besseres zu tun hat und man vormittags nicht schon eine Flasche Marillenschnaps leeren kann. Er muss sich die Zeit vertreiben.
Prüfend sehe ich mich um. Im Moment sind wir allein in der Stube, alle anderen haben sich in ihre Zimmer verkrochen und Tobi versucht auf dem Dachboden wahrscheinlich, die Schmiererei von der Wand zu wischen. Auf dem warmen Ofen hätten Falk und ich ein gemütliches Plätzchen. Doch die Stube ist mir zu sehr Durchgangsraum. Jederzeit könnte jemand hineinplatzen und etwas aufschnappen. Obwohl ich davon ausgehen muss, dass sowieso jedes zweite Wort weitergetragen wird, das ich sage, behagt mir diese Vorstellung nicht. Ich möchte mir wenigstens für ein paar Augenblicke einbilden können, es gehe Falk um mich und meine verkorkste Lebensgeschichte.
»Nein, bei dir. Lieber bei dir.« Es wird mir leichter fallen, dort zu reden, und es wird schwer genug. Ich weiß nicht, ob ich es tatsächlich kann. Bisher habe ich noch nie versucht, das alles in Worte zu fassen. Es kam mir selbst gespenstisch und unheimlich vor, wie etwas, was nur noch verstörender wird, wenn man sich ihm ein zweites Mal nähert und es mit klarem Blick ansieht. Weil es einem dann so deutlich bewusst wird, dass man ihm nie wieder ausweichen kann. Es wird einen bei jedem Schritt begleiten – kein Makel, sondern ein Schandmal, das für alle anderen sichtbar ist. Egal, wie gut du bist in dem, was du tust, du kannst nie so gut sein, dass es wieder verblassen wird. Du wirst daran gemessen.
Fast bekomme ich Angst vor meiner eigenen Courage, als ich darüber nachdenke, aber Falk ist nach einem knappen »Bis später bei mir!« schon mit Luna im Schlepptau auf den Dachboden geklettert. Ich nehme an, er wird Tobi helfen, die Sauerei wegzumachen. Zeit für mich, etwas zu tun, was schwierig, wenn nicht gar unmöglich wird, aber es gibt keinen anderen Weg. Ich muss mich bei Simon entschuldigen.
Zaghaft klopfe ich an, einmal, zweimal, dann schiebe ich die Tür ein kleines Stückchen auf und luge durch den Spalt, bereit, mich sofort wieder zurückzuziehen, falls er mich nicht sehen will. Doch er liegt im Bett und schläft, die Decke bis zum Hals gezogen und den Kopf so tief in dem duftigen Kissen, dass ich zu ihm treten muss, um ihn ansehen zu können. Seine Nase ist verstopft; bei jedem schnorchelnden Atemzug bildet sich im rechten Nasenloch eine kleine Blase und zieht sich wieder zurück. Prüfend streiche ich ihm mit dem Handrücken über die Stirn. Sie ist warm, glüht aber nicht. Vielleicht geht es ihm morgen schon wieder besser.
Sein Nachttisch quillt fast über vor Medikamenten; Nasenspray, Halspastillen, Hustensaft, Vitamin C, Fieberthermometer, auch ein voller Becher Tee wartet darauf, getrunken zu werden. Maggie wird ihn für Simon gekocht haben und sie wird es auch gewesen sein, die ihn ins Bett gesteckt hat. Ob er ihr von meinem Übergriff erzählt hat? Es würde sie rasend machen. Oder hat er kapiert, dass er mit seiner Unterstellung zu weit gegangen ist?
Es tut mir leid, Simon, denke ich und kann immer noch nicht glauben, dass dieser kränkliche, schlafende Mann vor mir mein Simon ist. Ich liebe Ordnung, auch wenn ich sie nicht gerne herstelle und nicht gut darin bin, sie zu bewahren, aber Simons Pedanterie kann einem Angst einjagen. Hier hat alles sein festes System, selbst die Rasierklinge liegt exakt in der Mitte der Waschbeckenablage, rechtwinklig zur Wand natürlich. Der Kulturbeutel ist geschlossen, der Kamm steckt in der Bürste, Deodorant, Zahnpasta und Gesichtscreme bilden eine mustergültige Reihe. Ich bin überzeugt, dass ich, wenn ich den Abstand zwischen ihnen messen würde, jeweils das gleiche Ergebnis erhalten würde, auf den Millimeter. Seine Socken hat er glatt gestrichen und auf das Ofenrohr gelegt, daneben hängt die Hose, dann das Longsleeve, dann der Pullover, genau in der Reihenfolge, in der er sich ankleiden wird. Es ist bedrückend. Er überlässt nichts dem Zufall.
Trotzdem fühle ich mich etwas ruhiger, als ich mich aus Simons Zimmer zurückziehe und die Tür von Maggie
Weitere Kostenlose Bücher